Massalia

[631] Seit der Schlacht bei Alalia im Jahre 540 (Bd. III2 S. 655 war die Vorherrschaft der Karthager im Westmeer entschieden; aber die griechischen Bestrebungen, auch die westlichen Küsten Europas in den Bereich ihres Handels und ihrer Kolonisation zu ziehen, waren darum noch nicht erloschen. An die Stelle Phokäas trat seine Tochterstadt Massalia752. Im Besitz eines vorzüglichen, von Bergen umschlossenen und daher leicht zu verteidigenden Hafens, unweit der Mündung eines großen Stroms, und zugleich als einziger Handelsplatz eines ausgedehnten Landes ohne jeden Konkurrenten, ist Massalia rasch zu einem volkreichen und wohlhabenden Gemeinwesen erwachsen. Es vermochte sich nicht nur wiederholter Angriffe der Ligurer zu erwehren – freilich mußte man gegen plötzliche Überfälle und Raubzüge immer auf der Hut sein und daher die Mauern in gutem Stand und ständig bewacht halten –, sondern auch zahlreiche Hafenbuchten des Alpengebiets zu besetzen; so sind die massaliotischen Kolonien Tauroeis, Olbia, Antipolis753, Nikaia, die Ansiedlungen auf den hyerischen Inseln u.a. entstanden. Sie alle waren mehr befestigte Hafenplätze zum Schutz der Küstenschiffahrt als selbständige Gemeinwesen und [631] blieben daher immer von der Mutterstadt abhängig. Die Verbindung war nur zur See sicher; die Bergpfade waren in den Händen der ligurischen Stämme, namentlich der Salyer. Wein und Öl wurden an den Berghängen in erheblichen Quantitäten gezogen; größeres Ackerland fehlte. Um so mehr war die Stadt auf die Pflege von Handel und Seefahrt angewiesen. Zu ernsthaften inneren Streitigkeiten nach Art der übrigen griechischen Gemeinwesen fehlte in Massalia wie in den ähnlich gestellten pontischen Kolonien die Muße; man war sich immer bewußt, wie gefährdet die Lage war, wie unentbehrlich die Eintracht, um Wohlstand und Freiheit zu behaupten. So blieb die Verfassung dauernd streng aristokratisch. Die Leitung des Gemeinwesens lag in den Händen eines großen Rats von 600 »Amtsfähigen« (Timuchen), die aus den alteingesessenen Familien auf Lebenszeit ernannt wurden – schon die Großeltern jedes Timuchen mußten Bürger gewesen sein. Ein Ausschuß von fünfzehn Mitgliedern erledigte die laufenden Geschäfte; an seiner Spitze standen die angesehensten Männer, von denen einer der regierende Bürgermeister war. Nur wer Kinder hatte, durfte in den großen Rat eintreten: dagegen konnte der alte, echt aristokratische Grundsatz, der Brüder und Söhne eines Mitglieds bei dessen Lebzeiten vom Eintritt ausschloß, auf die Dauer nicht aufrechterhalten werden. Andererseits sperrte man sich nicht engherzig nach außen ab; auch fremde Gewerbetreibende wurden ins Bürgerrecht aufgenommen, wenn sie sich in einem gerichtlichen Verfahren als würdig erwiesen. Unter diesem Regiment hat sich Massalia jahrhundertelang in geordneten Zuständen selbständig und mächtig erhalten. Die Finanzen waren blühend, das Arsenal und die Schiffswerft in gutem Stand, das Recht, anknüpfend an die alten Ordnungen der Heimat, wohlgeordnet, seine Sätze jedermann zugänglich aufgestellt wie in Athen und Rom754.

Der Handel Massalias beruhte vor allem auf der Verbindung mit dem Hinterland; das Rhonetal war seine natürliche Handelsstraße. Massalia hat daher die Mündungen des Stromes besetzt und durch Warttürme sowie durch eine Stadt Rhodanusia geschützt; auch wurde, wie in allen massaliotischen Ansiedlungen, [632] ein Heiligtum der Stadtgöttin, der ephesischen Artemis, auf einer Insel des Rhonedeltas angelegt und so der Handel unter den wirksamen Schutz der Gottheit gestellt. Wenn stromaufwärts auch Orte wie Arelate, Avenion, Kabellion als massaliotische Kolonien bezeichnet werden, so sind das wohl nur Faktoreien in den einheimischen Städten aus späterer keltischer Zeit755. Von der Rhone gingen die Handelsrouten teils ins Tal der Loire, an deren Mündung ein Ort Korbilon756 als Handelsplatz genannt wird, und zu den Venetern der Bretagne757, teils ins Rheingebiet. Bis an den Ozean, ja vielleicht gelegentlich selbst nach Britannien, sind die Kaufleute vorgedrungen; von den verheerenden Sturmfluten der Nordsee hatten die griechischen Schriftsteller des 4. Jahrhunderts eine unbestimmte Kunde758. Die Kelten sahen die fremden Händler und ihre Waren gern und ließen ihnen allen Schutz angedeihen. Auch Elemente der Kultur, Schrift und schriftliche Abfassung der Handelsgeschäfte haben sie später von Massalia übernommen. So kamen sie im Gegensatz zu den unkultivierten, immer feindseligen Ligurern in den Ruf regen Bildungsbedürfnisses, friedlicher Gesittung und vor allem großer Hellenenfreundschaft, den Ephoros weiter ausgemalt hat759. Auch die Fabel von einer »Heraklesstraße« – es ist wohl der Weg, den Herakles mit den Rindern des Geryones gezogen ist –, die von Italien durchs Keltenland und das von den Kelten besetzte Ligurien nach Spanien führe, und auf der jeder Wanderer, ob Einheimischer, ob Grieche, in völliger Sicherheit reisen könne760, wird damit zusammenhängen. Es kann nicht zweifelhaft [633] sein, daß Massalia das Vordringen der Kelten im Rhonetal gern gesehen und begünstigt hat.

Zwischen Rhone und Pyrenäen gründete Massalia Agathe761 im Elisykergebiet, am Fuß der Pyrenäen Rhodä und Emporiä762. Letzteres, ursprünglich auf einer Insel gelegen, dann an die Küste verlegt, war ein stark befestigtes Kastell, vor dessen Toren später eine gleichfalls befestigte Ansiedlung der Indiketen entstand763. – Auch in der Mitte der spanischen Ostküste, beim Kap de la Nao, lagen drei massaliotische Ansiedlungen, von denen Hemeroskopion764 am bekanntesten ist. An der Südküste endlich lag die vielleicht schon von Phokäa gegründete Stadt Mainake mit einer tartessischen Niederlassung auf der Insel im Hafen (Bd. II2 S. 104765); die [634] alte Freundschaft zwischen Phokäern und Tartessiern hat sich auf Massalia vererbt. – Auch an Versuchen, in den Ozean vorzudringen, wird es nicht gefehlt haben; eine verschollene Kunde ist auf uns gekommen von einer Entdeckungsfahrt des Euthymenes von Massalia an der afrikanischen Küste, die vielleicht noch in die Zeit vor Hekatäos gehört. Er soll das Wasser des Ozeans für süß erklärt und den Nil daraus abgeleitet haben – was sich hinter diesen Phantasien verbirgt, ist allerdings nicht zu ermitteln766. – Auch sonst hat Massalia die Politik Phokäas fortgesetzt. Der früher so vielfach ventilierte Gedanke, die großen Inseln Korsika und Sardinien dem Griechentum zu gewinnen, ist gewiß noch oft wieder aufgetaucht. Kaufleute aus Massalia begegnen uns in alten Inschriften aus der Phönikerstadt Tharros auf Sardinien, und wenn wir dem griechischen Namen Olbia trauen dürfen, den eine Stadt im Nordosten der Insel führt, so ist in ihr ein Emporium der Massalioten aus dieser Zeit zu sehen. Auch sonst finden sich Spuren griechischen Einflusses auf Sardinien: in Delphi stand als Weihgeschenk eine eherne Statue des Sardus, des Stammvaters der Insel767. – Dabei übte Massalia eine strenge Seepolizei, ähnlich den Hansestädten; die Stadt war voll von Beutestücken aus den Piratenkämpfen768. Mit den Etruskern wird man oft genug zusammengestoßen sein; wenn sie auch nicht mehr gefährlich waren, so mochten sie doch oft lästig genug fallen. Um so enger war die Stadt [635] seit alters mit Rom befreundet. Das große, vermutlich in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts entstandene Heiligtum der römischen Bauernschaft, der Dianatempel auf dem Aventin, galt für eine Filiale der phokäisch-massaliotischen Artemis von Ephesos; als die Römer nach der Eroberung Vejis dem delphischen Apoll aus dem Zehnten der Beute einen goldenen Dreifuß weihten, stellten sie das Geschenk im Schatzhaus der Massalioten auf769.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 631-636.
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