Am vierundzwanzigsten Sonntage nach Pfingsten

[489] Matthäus 24, 15


Wenn nach Daniel sich hebet

Fluch und Greul an heil'gem Ort,

Wer dann in Judäa lebet

Fliehe auf die Berge fort!


Keiner steig' vom Dache nieder

Etwas holen in dem Haus;

Keiner kehr' vom Felde wieder,

Um sein Kleid etwa, nach Haus.


Weh der Schwangern, und der Kinder

Säugenden, dann schweres Weh!

Fleht, daß nicht die Flucht im Winter

Und am Sabbat nicht gescheh'.


Solche Not war nie ersehen

Von dem Anfang bis zur Zeit,

Wird nicht wieder auch ergehen

Bis zum Ende aller Zeit.


Niemand würde selig werden,

Würde nicht verkürzt die Pein,

Um die Auserwählten werden

Doch verkürzt die Tage sein.


Glaubt dann nicht, sollt' einer reden:

»Hier ist Christus, dort ist er!«

Falsche Christus, Trugpropheten

Ziehn mit Wundern dann umher.[489]


Heißt es: »In der Wüste gehet

Christus dort!« Geht nicht hinaus.

Heißt's: »Im innern Haus ihn sehet!«

Gehet nicht nach ihm ins Haus.


Denn wie Blitz vom Aufgang helle

Leuchtend fährt von Gottes Thron

In des Niederganges Schwelle,

So kömmt einst der Menschensohn.


Wo der Leib sein wird, da wieder

Sammelt sich der Adler Schar:

Zu dem Haupte kommt ihr Glieder,

Stellt mit ihm die Kirche dar.


Nach der Notzeit bald erdunkeln

Sonnenschein und Mondenlicht,

Sterne fallen, die jetzt funkeln;

Himmelskraft erschüttert bricht.


Nur des Menschensohnes Zeichen

Wird am Himmel leuchtend stehn,

Und der Erdgeschlechter Schweigen

Laut in Wehklang übergehn;


Denn sie sehen, groß und mächtig

Kommet nun der Menschensohn

Ganz in Herrlichkeit und prächtig

Auf der Himmelswolken Thron.


Seine Engel wird er senden,

Sammelnd mit Posaunenschall

Von Weltenden zu Weltenden

Seine Auserwählten all.


Zweig und Blatt vom Baum der Feigen

Lehrt euch, wann der Sommer nah;

Seht ihr nun einst diese Zeichen,

Ist des Herren Tag auch da.[490]


Dies Geschlecht wird nicht vergehen,

Wahrlich! bis dies wird geschehn;

Erd' und Himmel wird vergehen,

Doch mein Wort wird ewig stehn.


Der Erlöser nennt die Zeichen,

Die voran dem Richter gehn,

Daß erlöset, ohn' Erbleichen,

Wir den Richter kommen sehn.


Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 1, München [1963–1968], S. 489-491.
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