1. Maria Stuarts Weihe

[129] Schloß Holyrood ist öd' und still,

Der Nachtwind nur durchpfeift es schrill,

Es klirrt kein Sporn in Hof und Hall',

Nur finstres Schweigen überall.


Da plötzlich schwebt, in luft'gem Gang,

Ein hohes Weib die Hall' entlang:

Ihr klares Aug' strahlt ewig-jung

Vom Feuer der Begeisterung.


Zu Häupten ihr glüht Sternenschein,

Ihr Haar ist gold – wer mag sie sein?

Sie kommt und bringt ihr Angebind

Im Saale drin dem Königskind.


Das Königskind, das heißt Marie;

Wie Liedeszauber umklingt es sie,

Als, neigend über die Wiege sich,

Die Muse spricht: »Ich weihe dich!«


Sie sprach es kaum, da – still und stumm

Entschwebet schon sie wiederum,

Und lachend schlüpfen lust'ge zwei

Jetzt in die Tür, an ihr vorbei.


Die eine trägt zu buntem Tand

Einen Pfauenfächer in blitzender Hand,[129]

Es knistert die Seide, es bauscht ihr Kleid,

Das war die Dame Eitelkeit.


Die andre, frech und üppig gar,

Trägt langes, aufgelöstes Haar,

Ihr Aug' ist schwarz, nackt ihre Brust,

Das war die Dirne Sinnenlust.


Sie neigen beide zur Wiege sich

Und kichern hell: »Wir weihen dich!«

Da huscht, und ihre Wang' erblaßt,

Rasch in den Saal ein dritter Gast.


Wie Schatten schleicht er an der Wand,

Sein Kleid ist rot, rot seine Hand,

Er schaut sich um, sein Auge sticht,

Und messerscharf ist sein Gesicht.


Er neigt sich jetzt und spricht das Wort:

»Ich weihe dich zu Blut und Mord!«

Auf schreit im Schlaf das Königskind,

Und heller draußen pfeift der Wind.


Der Gast ist fort, doch her und hin

Wirft banger Traum die Schläferin.

Geweiht fürs Leben schlummert sie,

Die schöne schottische Marie.


Quelle:
Theodor Fontane: Sämtliche Werke. Bd. 1–25, Band 20, München 1959–1975, S. 129-130.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte (Ausgabe 1898)
Gedichte
Die schönsten Gedichte von Theodor Fontane
Werke, Schriften und Briefe, 20 Bde. in 4 Abt., Bd.5, Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes
Gedichte in einem Band
Herr von Ribbeck auf Ribbeck: Gedichte und Balladen (insel taschenbuch)

Buchempfehlung

Lewald, Fanny

Jenny

Jenny

1843 gelingt Fanny Lewald mit einem der ersten Frauenromane in deutscher Sprache der literarische Durchbruch. Die autobiografisch inspirierte Titelfigur Jenny Meier entscheidet sich im Spannungsfeld zwischen Liebe und religiöser Orthodoxie zunächst gegen die Liebe, um später tragisch eines besseren belehrt zu werden.

220 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon