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[338] Oberer Hünenring. Eine Stube.

Thusnelda und Thumelico.


THUSNELDA. Einen Kuß, Junge! Noch einen, und noch tausende – ich werde nicht satt.

THUMELICO. Deine Küsse tun weh.

THUSNELDA. Kind, ich bin zu froh. Nicht wahr, nun wirst du zehntausend Jahr alt, wie deines Vaters Lorbeerkranz, welcher ewig jugendlich und frisch die befreiten Völker umgrünen, beschatten und bei Freiheitskämpfen umsäuseln wird?

THUMELICO. Ja, Mutter, wenns geht, werd ich gern so alt.

EIN KNECHT tritt ein. Herzog Segest.

THUSNELDA. Meinen Sohn in sein Zimmer. Mein Vater braucht nicht anzufragen, um einzutreten.

SEGEST kommt. Guten Morgen.

THUSNELDA. Setze dich.

SEGEST. Die Hand an der Stirn?

THUSNELDA. Du warst lange nicht hier.

SEGEST. Darüber denkst du schmerzlich nach?

THUSNELDA. – – Wie triffts, daß du heut kommst, just da er fern ist.

SEGEST. Ich kenne keinen Er. Wen meinst du?

THUSNELDA. Meinen Gemahl.

SEGEST. Es trifft sich wie damals als ich fern von jener Falkenburg war, er dich daraus entführte, und den Namen meiner Veste als echter Raubvogel betätigte, der dem Greis das Köstlichste, die Tochter und ihr Herz entriß.

THUSNELDA. Vater, ich bitte! Vergangenheit ist böse Asche. Stäube die Funken nicht auf, welche Jahre lang unter ihr fortglimmen können. – Er liebte mich, ich ihn. Du gabst deine Einwilligung, und brachst dein Wort als du merktest, er wolle nur dein Schwiegersohn, nicht dein Knecht sein.[338]

SEGEST. Er beleidigte mich.

THUSNELDA. Nie. Oder kann er dazu, wenn er unter dem Volk größer ward als du? Dacht er daran? Tats nicht sein angeborenes hehres Wesen?

SEGEST. Lassen wir das Hehre gut sein. Meistens besteht es aus nichts als glänzenden Kniffen. – Wo ist er jetzt?

THUSNELDA. Wo er nicht sein sollte: bei den Bestürmern des Harzes! Sie sinkt in einen Sessel.

SEGEST besorgt. Liebe Tochter – – –

THUSNELDA sich erholend. Du hast noch ein »lieb« für mich? Der Ton hat Kraft und mein Fieberanfall verfliegt. Ich habe in den letzten Tagen zu viel Wirrsale erlebt, die Ernährung der Legionen, die Sorge –

SEGEST. Schon gut. Hüte dich vor dem Zugwind. Es ist März und gewiß hast du dich unvorsichtig erkältet. Für sich. – Das Gerücht von Hermanns Abfall ist falsch. Wie könnte er sonst unter meinen römischen Freunden marschieren?

THUSNELDA. Hier bringt dir die Magd den Imbiß.

SEGEST. Du hattest ihn mir gleich, als ich kam, zu bieten, nicht hinterdrein, da ich gehe.

THUSNELDA. Die Bestürzung – ich hatte dich geraume Zeit nicht gesehen – ich bekenne meinen Fehler.

SEGEST. Dadurch verbesserst du ihn nicht, machst ihn nur offenbarer. Lebe wohl. Er geht.

THUSNELDA am Fenster. Diesmal hat er mit seinem Vorwurf Recht! Ich handle so nachlässig gegen meine Gäste nicht wieder! – Wie er hinunterschreitet, die schweren Verschläge der Gehöfte fliegen vor seiner Hand auf wie eine Kette wilder Hühner vor der Armbrust des Jägers. Er ist mein Vater! Beide Augen gäb ich, hielt' er mit uns und nicht mit der urbs, wie sie das von Soldaten, Raub, Mord, List und Hohn sprühende Scheusal nennen!


Quelle:
Christian Dietrich Grabbe: Werke und Briefe. Band 3, Emsdetten 1960–1970, S. 338-339.
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