Siebenzehnter Brief.

An das Fräulein Caroline von Wilmar.

[151] ... den 20sten September 1771.


Sie erwarteten wohl nicht, meine liebe Freundinn! als ich Ihnen neulich einen Theil meiner Schicksale erzählte, ich würde Ihnen bald melden können, daß ich den Mann, der einst der Gegenstand meiner ersten Liebe war, von Angesicht zu Angesicht – gesehen habe – Und doch ist dies heute der Fall. Aber fürchten Sie desfalls nichts für meine Ruhe! Freylich habe ich nicht ohne Gemüthsbewegung einen Menschen erblicken können, der mir ehemals so nahe am Herzen lag. Wer auch nicht scharfsichtiger Beobachter gewesen wäre, der müßte doch meine Bestürzung, meine Verlegenheit, den Ausdruck von tausend Empfindungen, die sich alle auf[151] mich zudrängten, auf meinem Gesichte gelesen haben. Urtheilen Sie daher, ob dies alles meinem redlichen Gatten verborgen bleiben konnte.

Es war mein Glück, daß dieser erschütternde Auftritt mich nicht in einem gesellschaftlichen Circul, sondern auf einem Spaziergange bey Urfstädt überraschte.

Wie Herr Meyer dahin kömmt, das weiß ich noch nicht; Nur soviel habe ich erfahren, daß er sich seit einiger Zeit bey dem Baron Leidthal aufgehalten hat, und wenige Tage nach dem sonderbaren Zufalle, der ihn vor meine Augen brachte, mit ein Paar jungen Herrn auf Reisen gegangen ist. Doch auch ohne diesen Umstand, der ihn wieder von hier entfernt, würde mir in der Folge nicht bange für meine Gemüthsruhe seyn. Ich habe mich sorgfältig geprüft, und glaube mich stark genug, täglich mit ihm umgehn zu können, ohne daß je ein Gefühl von wiedererwachender Liebe in mir aufkeimen würde. Auch war mein sonst so ängstlicher Mann so[152] voll edlen Zutrauens, daß er mir nicht die geringste Unruhe gezeigt hat. Ein Blick auf ihn und meine Tochter würde mich zur Vernunft zurückrufen, wenn ich mich je vergessen könnte. Aber ich bin auch jetzt ganz anders gestimmt, und würde in meinem Umgange die gehörige Vorsicht zu nehmen wissen.

Unterdessen wäre ich doch neugierig zu erfahren, ob er mich wiedergekannt hat; Ich glaube es nicht. Zehn Jahre können schon ein Weibergesicht verändern. Wer weiß, wenn ich einmal das Glück hätte Sie, beste Freundinn! wieder zu umarmen, ob auch Sie mich dann noch kennen würden.

Seyen Sie aber überzeugt, daß wenn auch die Zeit meine Züge verändert, dieselbe doch keinen Wechsel hervorgebracht hat in dem Herzen


Ihrer

Ihnen treu ergebenen Freundinn

Wilhelmine.[153]

Quelle:
Knigge, Adolph Freiherr von: Der Roman meines Lebens, in Briefen herausgegeben. 4 Teile, Teil 4, Riga 1781–1783, S. 151-154.
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