Fünfter Auftritt


[308] Saladin und Sittah.


SITTAH.

Ganz sonderbar!

SALADIN.

Gelt, Sittah? Muß mein Assad nicht ein braver,

Ein schöner junger Mann gewesen sein?

SITTAH.

Wenn er so war, und nicht zu diesem Bilde[308]

Der Tempelherr vielmehr gesessen! – Aber

Wie hast du doch vergessen können dich

Nach seinen Eltern zu erkundigen?

SALADIN.

Und ins besondre wohl nach seiner Mutter?

Ob seine Mutter hier zu Lande nie

Gewesen sei? – Nicht wahr?

SITTAH.

Das machst du gut!

SALADIN.

O, möglicher wär' nichts! Denn Assad war

Bei hübschen Christendamen so willkommen,

Auf hübsche Christendamen so erpicht,

Daß einmal gar die Rede ging – Nun, nun;

Man spricht nicht gern davon. – Genug; ich hab

Ihn wieder! – will mit allen seinen Fehlern,

Mit allen Launen seines weichen Herzens

Ihn wieder haben! – Oh! das Mädchen muß

Ihm Nathan geben. Meinst du nicht?

SITTAH.

Ihm geben?

Ihm lassen!

SALADIN.

Allerdings! Was hätte Nathan,

So bald er nicht ihr Vater ist, für Recht

Auf sie? Wer ihr das Leben so erhielt,

Tritt einzig in die Rechte des, der ihr

Es gab.

SITTAH.

Wie also, Saladin? wenn du

Nur gleich das Mädchen zu dir nähmst? Sie nur

Dem unrechtmäßigen Besitzer gleich

Entzögest?

SALADIN.

Täte das wohl Not?

SITTAH.

Not nun

Wohl eben nicht! – Die liebe Neubegier

Treibt mich allein, dir diesen Rat zu geben.

Denn von gewissen Männern mag ich gar

Zu gern, so bald wie möglich, wissen, was

Sie für ein Mädchen lieben können.

SALADIN.

Nun,

So schick' und laß sie holen.

SITTAH.

Darf ich, Bruder?

SALADIN.

Nur schone Nathans! Nathan muß durchaus[309]

Nicht glauben, daß man mit Gewalt ihn von

Ihr trennen wolle.

SITTAH.

Sorge nicht.

SALADIN.

Und ich,

Ich muß schon selbst sehn, wo Al-Hafi bleibt.


Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 2, München 1970 ff., S. 308-310.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Nathan der Weise
Nathan der Weise
Nathan der Weise: Studienausgabe
Nathan der Weise: Handreichungen für den Unterricht. Unterrichtsvorschläge und Kopiervorlagen
Nathan der Weise: Ein dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen (Suhrkamp BasisBibliothek)
Nathan der Weise

Buchempfehlung

Wieland, Christoph Martin

Geschichte der Abderiten

Geschichte der Abderiten

Der satirische Roman von Christoph Martin Wieland erscheint 1774 in Fortsetzung in der Zeitschrift »Der Teutsche Merkur«. Wielands Spott zielt auf die kleinbürgerliche Einfalt seiner Zeit. Den Text habe er in einer Stunde des Unmuts geschrieben »wie ich von meinem Mansardenfenster herab die ganze Welt voll Koth und Unrath erblickte und mich an ihr zu rächen entschloß.«

270 Seiten, 9.60 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon