Vierte Szene

[282] Die Terrasse.


Hamlet, Horatio und Marcellus treten auf.


HAMLET.

Die Luft geht scharf, es ist entsetzlich kalt.

HORATIO.

's ist eine schneidende und strenge Luft.

HAMLET.

Was ist die Uhr?

HORATIO.

Ich denke, nah an zwölf.

MARCELLUS.

Nicht doch, es hat geschlagen.

HORATIO.

Wirklich schon?

Ich hört' es nicht; so rückt heran die Stunde

Worin der Geist gewohnt ist umzugehn.


Trompetenstoß und Geschütz abgefeuert hinter der Szene.


Was stellt das vor, mein Prinz?

HAMLET.

Der König wacht die Nacht durch, zecht vollauf,[282]

Hält Schmaus und taumelt den geräusch'gen Walzer;

Und wie er Züge Rheinweins niedergießt,

Verkünden schmetternd Pauken und Trompeten

Den ausgebrachten Trunk.

HORATIO.

Ist das Gebrauch?

HAMLET.

Nun freilich wohl:

Doch meines Dünkens (bin ich eingeboren

Und drin erzogen schon) ist's ein Gebrauch,

Wovon der Bruch mehr ehrt als die Befolgung.

Dies schwindelköpf'ge Zechen macht verrufen

Bei andern Völkern uns in Ost und West;

Man heißt uns Säufer, hängt an unsre Namen

Ein schmutzig Beiwort; und fürwahr, es nimmt

Von unsern Taten, noch so groß verrichtet,

Den Kern und Ausbund unsers Wertes weg.

So geht es oft mit einzlen Menschen auch,

Daß sie durch ein Naturmal, das sie schändet,

Als etwa von Geburt (worin sie schuldlos,

Weil die Natur nicht ihren Ursprung wählt)

Ein Übermaß in ihres Blutes Mischung,

Das Dämm' und Schanzen der Vernunft oft einbricht,

Auch wohl durch Angewöhnung, die zu sehr

Den Schein gefäll'ger Sitten überrostet –

Daß diese Menschen, sag' ich, welche so

Von einem Fehler das Gepräge tragen

(Sei's Farbe der Natur, sei's Fleck des Zufalls),

Und wären ihre Tugenden so rein

Wie Gnade sonst, so zahllos wie ein Mensch

Sie tragen mag: in dem gemeinen Tadel

Steckt der besondre Fehl sie doch mit an;

Der Gran von Schlechtem zieht des edlen Wertes

Gehalt herab in seine eigne Schmach.


Der Geist kommt.


HORATIO.

O seht, mein Prinz, es kommt!

HAMLET.

Engel und Boten Gottes steht uns bei!

Sei du ein Geist des Segens, sei ein Kobold,

Bring' Himmelslüfte oder Dampf der Hölle,[283]

Sei dein Beginnen boshaft oder liebreich,

Du kommst in so fragwürdiger Gestalt,

Ich rede doch mit dir; ich nenn' dich Hamlet,

Fürst, Vater, Dänenkönig: o gib Antwort!

Laß mich in Blindheit nicht vergehn! Nein, sag:

Warum dein fromm Gebein, verwahrt im Tode,

Die Leinen hat gesprengt? warum die Gruft,

Worin wir ruhig eingeurnt dich sahn,

Geöffnet ihre schweren Marmorkiefern,

Dich wieder auszuwerfen? Was bedeutet's,

Daß, toter Leichnam, du, in vollem Stahl,

Aufs neu' des Mondes Dämmerschein besuchst,

Die Nacht entstellend; daß wir Narren der Natur

So furchtbarlich uns schütteln mit Gedanken,

Die unsre Seele nicht erreichen kann?

(Was ist dies? sag! Warum? Was sollen wir?)

HORATIO.

Es winket Euch, mit ihm hinwegzugehn,

Als ob es eine Mitteilung verlangte

Mit Euch allein.

MARCELLUS.

Seht, wie es Euch mit freundlicher Gebärde

Hinweist an einen mehr entlegnen Ort:

Geht aber nicht mit ihm!

HORATIO.

Nein, keineswegs.

HAMLET.

Es will nicht sprechen: wohl, so folg' ich ihm.

HORATIO.

Tut's nicht, mein Prinz!

HAMLET.

Was wäre da zu fürchten?

Mein Leben acht' ich keine Nadel wert;

Und meine Seele, kann es der was tun,

Die ein unsterblich Ding ist, wie es selbst?

Es winkt mir wieder fort, ich folg' ihm nach.

HORATIO.

Wie, wenn es hin zur Flut Euch lockt, mein Prinz

Vielleicht zum grausen Gipfel jenes Felsen,

Der in die See nickt über seinen Fuß,

Und dort in andre Schreckgestalt sich kleidet,

Die der Vernunft die Herrschaft rauben könnte

Und Euch zum Wahnsinn treiben? Oh, bedenkt!

Der Ort an sich bringt Grillen der Verzweiflung

Auch ohne weitern Grund in jedes Hirn,[284]

Der so viel Klafter niederschaut zur See

Und hört sie unten brüllen.

HAMLET.

Immer winkt es:

Geh nur! ich folge dir.

MARCELLUS.

Ihr dürft nicht gehn, mein Prinz!

HAMLET.

Die Hände weg!

HORATIO.

Hört uns, Ihr dürft nicht gehn!

HAMLET.

Mein Schicksal ruft,

Und macht die kleinste Ader dieses Leibes

So fest als Sehnen des Nemeer Löwen.


Der Geist winkt.


Es winkt mir immerfort: laßt los! Beim Himmel,


reißt sich los

Den mach' ich zum Gespenst, der mich zurückhält! –

Ich sage, fort! – Voran! ich folge dir.


Der Geist und Hamlet ab.


HORATIO.

Er kommt ganz außer sich vor Einbildung.

MARCELLUS.

Ihm nach! Wir dürfen ihm nicht so gehorchen.

HORATIO.

Kommt, folgen wir! Welch Ende wird dies nehmen?

MARCELLUS.

Etwas ist faul im Staate Dänemarks.

HORATIO.

Der Himmel wird es lenken.

MARCELLUS.

Laßt uns gehn!


Quelle:
William Shakespeare: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 4, Berlin: Aufbau, 1975, S. 282-285.
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