Vierzehntes Kapitel

[16] Was nun die Sätze anlangt, so hat man sie in so vielfacher Weise auszuwählen, als sie früher von mir unterschieden worden sind. Man hat also entweder die Meinungen Aller, oder die der Meisten oder die der Weisen, und von diesen entweder die aller Weisen oder der meisten oder der bewandertsten zu berücksichtigen, so weit sie dem Scheinbaren nicht zuwider sind; ferner solche Meinungen über die Künste. Auch die Meinungen, welche dem Scheinbaren zuwider sind, kann man, wie gesagt, als verneinte zu einem Satze benutzen. Auch ist es zweckmässig, wenn man die Sätze nicht blos aus dem der Meinung Entsprechenden, sondern auch aus den diesem Aehnlichen entnimmt, wie z.B. den Satz, dass Gegentheile von ein und demselben Sinne wahrgenommen werden (weil ja auch nur eine Wissenschaft für sie besteht), und dass man bei dem Sehen etwas aufnimmt und nicht aussendet, weil es ja auch bei den übrigen Sinnen sich so verhält; denn wir hören, indem wir etwas aufnehmen und nicht etwas aussenden, und wir schmecken in gleicher Weise und ebenso nehmen wir mit den übrigen Sinnen wahr. Auch muss man das, was in allen oder in den meisten Fällen gilt, als obersten und glaubwürdigen Satz aufstellen; denn wer einen Gegenstand nicht überblickt, stellt die Sätze nicht so auf. Auch aus den Schriften muss man seine Gründe auswählen, und die Beschreibungen muss man bei jeder Gattung besonders geben, wie z.B. von dem Guten oder von dem Geschöpfe und zwar von dem Guten in seiner Allgemeinheit, indem man mit dem Was des Gegenstandes beginnt. Dabei muss man die Meinungen[16] Einzelner mit erwähnen, z.B. dass Empedokles vier Elemente für alles Körperliche angenommen habe, denn den Ausspruch eines so angesehenen Mannes lässt man leicht gelten.

Die Sätze und die Streitsätze zerfallen im Allgemeinen in drei Klassen; sie betreffen entweder das Sittliche, oder das Natürliche, oder das Denken. Zu den Sittlichen gehört z.B. der Satz, dass man seinen Eltern mehr als den Gesetzen gehorchen solle, wenn die Gebote beider einander widerstreiten. Zu den das Denken betreffenden Sätzen gehört z.B. der Satz: Ob ein und dieselbe Wissenschaft die Gegentheile befasse oder nicht? Zum Natürlichen gehört der Satz: Ob die Welt ewig ist oder nicht? Auch die Streitsätze zerfallen in diese drei Klassen. Die Beschaffenheit jeder dieser drei Klassen kann man nicht leicht definiren; vielmehr muss man durch fleissig geübte Induktion suchen, jede dieser Klassen kennen zu lernen, und dabei die vorher gegebenen Beispiele beachten.

Für die Wissenschaft hat man nun diese Sätze der Wahrheit gemäss aufzustellen; für die Disputationen aber so, wie sie der Meinung entsprechen. Alle Sätze hat man möglichst allgemein aufzustellen und mehrere in einen Satz zusammenzuziehen, wie z.B. die Sätze, dass ein und dieselbe Wissenschaft die widersprechenden Gegensätze befasse, und dass dies auch für die Gegentheile gelte und auch für die Beziehungen. In gleicher Weise hat man allgemeine Sätze wieder so weit zu sondern, als es möglich ist, z.B. dass es sonach eine Wissenschaft sei, welche über das Gute und das Schlechte handele und eine, welche das Schwarze und das Weisse behandele, und eine, welche das Kalte und das Warme behandele u.s.w.

Quelle:
Aristoteles: Die Topik. Heidelberg 1882, S. 16-17.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Organon
Philosophische Bibliothek, Bd.13, Sophistische Widerlegungen (Organon VI)
Organon Band 2. Kategorien. Hermeneutik oder vom sprachlichen Ausdruck. Griechisch - Deutsch
Das Organon (German Edition)