Erstes Kapitel

[50] Ob von zwei oder mehreren Dingen eines das wünschenswerthere oder bessere sei, ist nach folgenden Gesichtspunkten zu prüfen. Ich bemerke zunächst, dass ich diese Prüfung nicht bei Dingen austeile, die weit von einander abstehen und sehr verschieden sind (denn Niemand zweifelt, ob die Glückseligkeit dem Reichthume vorzuziehen sei), sondern nur bei Dingen, die einander sehr nahe stehen und wo man zweifelt, ob man das eine dem anderen vorziehen solle, weil man nicht sieht, dass eines das andere übertrifft. Bei diesen Dingen ist klar, dass, wenn gezeigt worden, dass das eine das andere in einem oder mehreren Punkten übertrifft, man zustimmen wird, dass das vorzuziehen sei, welches das andere übertrifft.

Zunächst ist nun das länger Dauernde und das Festere vor dem in diesen Punkten Geringeren vorzuziehen; ebenso das, was der kluge und gute Mann oder das richtige Gesetz vorziehen würde, oder was die für die einzelnen Gebiete tüchtigen Männer als solche vorziehen, oder was die in den einzelnen Gebieten Erfahrenen, oder die Meisten oder Alle von ihnen vorziehen; z.B. das, was in der Heilkunst oder Baukunst die meisten der Aerzte oder alle von ihnen vorziehen, oder überhaupt was die Meisten oder Alle vorziehen, oder was alle Welt vorzieht, z.B. das Gute, da Alles nach dem Guten strebt. Man muss hierbei sein Augenmerk auf den Gesichtspunkt richten, der für den vorliegenden Streitfall am brauchbarsten ist. Allgemein besser und wünschenswerther ist das, was zu einer besseren Wissenschaft gehört und für den Einzelnen das, was zu seiner Wissenschaft gehört.

Ferner ist das, was als solches etwas ist, dem vorzuziehen, was nicht zur Gattung gehört; so die Gerechtigkeit[50] dem Gerechten; denn das eine gehört zur Gattung des Guten, das andere nicht, und jenes ist es als Gutes, dieses aber nicht. Denn nichts gilt als Gattung, was nicht in der Gattung enthalten ist; so ist der weisse Mensch nicht in der Gattung der weissen Farbe enthalten. Dasselbe gilt für andere Fälle.

Auch ist das um sein selbst willen Wünschenswerthe besser, als das um eines andern willen Wünschenswerthe, z.B. das Gesundsein besser als das Turnen; denn jenes ist an sich wünschenswerth, dieses um eines andern willen. Ebenso ist das an sich Seiende wünschenswerther als das Nebensächliche; z.B. dass die Freunde gerecht seien, ist wünschenswerther, als dass die Feinde gerecht seien; denn jenes ist an sich wünschenswerth, dieses nur nebenbei, denn man wünscht nur deshalb nebenbei, dass die Feinde gerecht seien, damit sie uns keinen Schaden zufügen. Dieser Gesichtspunkt ist derselbe, wie der vorhergehende; er unterscheidet sich nur in der Form; denn dass unsere Freunde gerecht seien, wünscht man an sich selbst, auch wenn man davon keinen Vortheil hat, und selbst wenn sie in Indien sind; dass aber die Feinde gerecht seien, wünscht man um eines andern willen, nämlich damit sie uns keinen Schaden zufügen.

Auch das, was an sich Ursache des Guten ist, ist wünschenswerther, als was die Ursache desselben nur nebenbei ist; so ist die Tugend wünschenswerther als das Glück, denn jene ist an sich selbst die Ursache der Güter, dieses aber nur nebenbei; dasselbe gilt für andere Fälle. Ebenso verhält es sich mit den Gegentheilen; denn das, was an sich Ursache des Uebels ist, ist mehr zu fliehen, als was nur nebenbei Uebles verursacht, wie z.B. die Schlechtigkeit und der Zufall; denn jene ist an sich ein Uebel, der Zufall aber nur nebenbei.

Ebenso ist das überhaupt Gute wünschenswerther, als das, was nur für einen Einzelnen gut ist, z.B. das Gesundsein gegen das Operirt-werden; denn jenes ist überhaupt gut, dieses nur für den, der des Operirt-werdens bedarf. Ebenso ist das von Natur Gute dem nicht von Natur Guten vorzuziehen, wie die Gerechtigkeit dem Gerechten; denn jene ist von Natur gut, dieses ist aber erworben. Ferner ist das dem Besserem und Geehrterem Einwohnende vorzüglicher, als z.B. das dem Gotte Einwohnende[51] gegen das dem Menschen Einwohnende, oder das, was der Seele einwohnt gegen das, was dem Leibe einwohnt. Ebenso ist das dem Bessern Eigenthümliche vorzüglicher, als das den Geringerem Eigenthümliche, wie z.B. das dem Gott Eigenthümliche gegen das dem Menschen Eigenthümliche; denn in Bezug auf das beiden Gemeinsame unterscheiden sie sich nicht, sondern nur in dem Eigenthümlichen übertrifft das eine das andere. Ebenso ist das in dem Besserem, oder Früherem, oder Geehrterem Enthaltene das Bessere; z.B. die Gesundheit besser, als die Stärke und die Schönheit; denn die Gesundheit ist in dem Feuchten und Trockenen, in dem Warmen und Kalten, und überhaupt in den Elementen, aus denen das Geschöpf besteht, enthalten; die Stärke und Schönheit aber in dem später Hinzukommenden; denn die Stärke ist in den Nerven und Knochen enthalten und die Schönheit scheint ein Ebenmass der Glieder zu sein. Auch ist der Zweck vorzüglicher als die Mittel für ihn und von diesen das dem Zweck näher stehende Mittel vorzüglicher, als das entferntere. Auch ist jedes Mittel, was dem Zweck des Lebens dient, vorzüglicher, als die Mittel für anderes; so ist das auf die Glückseligkeit Abzweckende vorzüglicher, als das auf die Klugheit Abzweckende. Ebenso ist das Mögliche vorzüglicher als das Unmögliche und von zweierlei Ausführbarem das, was einen besseren Zweck vermittelt. Der Werth eines Mittels gegen den Werth eines Zwecks bestimmt sich dagegen nach dem Verhältniss, insofern der eine Zweck den andern Zweck mehr übertrifft, als der letztere Zweck sein Mittel. Wenn z.B. die Glückseligkeit an Werth die Gesundheit weit mehr übertrifft, als die Gesundheit das, was gesund macht, so ist das Mittel, was die Glückseligkeit bewirkt, mehr werth, als die Gesundheit selbst. Denn um so viel, als die Glückseligkeit mehr werth ist, als die Gesundheit, um so viel überwiegt auch das, was die Glückseligkeit bewirkt, das, was die Gesundheit bewirkt. Nun übertrifft aber die Gesundheit ihr eigenes Mittel in geringerem Masse, und deshalb übertrifft das Mittel für die Glückseligkeit das Mittel der Gesundheit in höherem Masse, als die Gesundheit dieses ihr Mittel übertrifft. Hieraus erhellt, dass das, was die Glückseligkeit bewirkt, vorzüglicher ist, als die Gesundheit selbst,[52] denn es überragt das Mittel der Gesundheit mehr, als die Gesundheit selbst ihr Mittel überragt.

Ferner ist das an sich Sittlichere auch ehrenvoller und lobenswerther; so die Freundschaft im Vergleich zum Reichthum und die Gerechtigkeit im Vergleich zur Stärke; denn jene sind an sich ehrenwerth und lobenswerth, diese aber nicht an sich, sondern nur in Bezug auf ein Anderes; da Niemand den Reichthum an sich, sondern nur um eines Andern willen schätzt, während man die Freundschaft an sich schätzt, wenn man auch nichts Anderes durch sie erlangt.

Quelle:
Aristoteles: Die Topik. Heidelberg 1882, S. 50-53.
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