Neuntes Kapitel

[149] Man muss ferner, wenn es sich um Definition eines Habens handelt, auch auf den Inhaber achten, und wenn es sich um die Definition des Inhabers handelt, auf das Haben, und ebenso hat man bei ähnlichen solchen Gegenständen zu verfahren. Wird z.B. das Angenehme als etwas Nützliches aufgestellt, so prüfe man auch, ob der Geniessende davon Nutzen hat. Im Allgemeinen trifft es sich, dass der Definirende mit solchen Definitionen gewissermassen Mehreres definirt. Denn wer die Kenntniss definirt, definirt gewissermassen auch die Unkenntniss, und wer das Wissbare definirt, auch das Nicht-Wissbare, und ebenso definirt er mit dem Wissen auch das Nicht-Wissen. Denn wenn das erste erklärt worden ist, wird auch das andere gewissermassen mit klar. Man muss hier überall darauf achten, dass die Uebereinstimmung nicht verletzt werde und zu dem Behuf die für die Gegentheile und für die Reihen verwandter Begriffe angegebenen Gesichtspunkte benutzen.

Man muss ferner bei den Beziehungen darauf achten, ob auf etwas von dem, worauf die Gattung bezogen wird, auch die Art sich bezieht; z.B. ob, wenn die Vorstellung auf das Vorstellbare überhaupt bezogen wird, auch die einzelne Vorstellung auf das einzelne Vorstellbare bezogen worden ist, und ob, wenn das Vielfache auf das Vielgetheilte bezogen worden ist, das einzelne Vielfache auch auf das einzelne Vielgetheilte bezogen worden ist; denn[149] wenn dies nicht geschehen sein sollte, so wäre es ein Fehler.

Man muss ferner prüfen, ob für den entgegengesetzten Gegenstand auch der entgegengesetzte Begriff passt, z.B. ob für das Halbe der entgegengesetzte Begriff von dem Begriff des Doppelten aufgestellt worden ist; wenn z.B. das Doppelte das Einfache überragt, so muss das Halbe das sein, was von dem Einfachen überragt wird. Dasselbe gilt für die Gegentheile; denn der Begriff des Gegentheils wird auch von dem Gegentheile selbst nach einer der Gegenüberstellungen des Gegentheiligen gelten müssen. Ist z.B. nützlich das, was das Gute bewirkt, so ist schädlich das, was das Schlechte bewirkt oder was das Gute zerstört; denn eines von diesen beiden muss nothwendig das Gegentheil des zuerst Genannten sein. Ist nun keines von beiden das Gegentheil des zuerst Genannten , so kann offenbar auch keine der aufgestellten Definitionen den Begriff des Gegentheils ausdrücken, und deshalb kann auch die anfangs aufgestellte Definition nicht die richtige sein. Da indess manche von den Gegentheilen in der Weise einer Beraubung des ersten ausgedrückt werden, wie z.B. die Ungleichheit als eine Beraubung der Gleichheit gilt (denn ungleich wird das Nicht-Gleiche genannt), so ist klar, dass das als Beraubung ausgedrückte Gegentheil nur vermittelst seines Gegentheils definirt werden kann; aber letzteres darf nicht durch jenes definirt werden, denn sonst würde von beiden gegentheiligen Gegenständen jeder durch den andern erklärt. Man muss also bei den gegentheiligen Dingen auf diese Fehler Acht haben; z.B. wenn jemand sagt, die Gleichheit sei das Gegentheil von der Ungleichheit; denn dann würde sie durch das, nur nach der Beraubung bezeichnete Gegentheil definirt. Auch würde bei solchem Definiren das Definirte selbst dazu benutzt, wie sich ergiebt, wenn man statt des Namens den Begriff setzt; denn es ist einerlei, ob man Ungleichheit oder Beraubung der Gleichheit sagt, und dann ist also die Gleichheit das Gegentheil von der Beraubung der Gleichheit, mithin ist sie selbst zu ihrer Definition benutzt. Wenn aber keine der einander entgegengesetzten Bestimmungen als eine Beraubung gelten kann und die Definition doch in solcher Weise aufgestellt wird, z.B. dass das Gute das[150] Gegentheil des Bösen sei, so ist klar, dass dann das Böse das Gegentheil des Guten sein muss, und man kann dann von beiden gegentheiligen Bestimmungen die Definition in gleicher Weise aufstellen, so dass sich ergiebt, wie auch hier das zu Definirende zu seiner Definition benutzt wird. Denn in dem Begriffe des Bösen ist das Gute mit enthalten; ist also das Gute das Gegentheil des Bösen, so ist das Böse von dem Gegentheil des Guten nicht verschieden, und das Gute ergiebt sich dann als das Gegentheil vom Gegentheil des Guten, woraus erhellt, dass es durch sich selbst definirt wird.

Es ist ferner ein Fehler, wenn in der Definition etwas als Beraubung aufgestellt worden ist, aber nicht angegangen worden, wessen Beraubung es sein solle; ob es z.B. die Beraubung des Habens oder des Gegentheils oder wessen sonst sein solle; oder wenn der Gegenstand, in welchem die betreffende Bestimmung von Natur besteht, überhaupt nicht genannt worden ist, oder nicht der Gegenstand, in welchem sie zunächst von Natur besteht; z.B. wenn jemand die Unwissenheit als eine Beraubung definirt, ohne sie eine Beraubung des Wissens zu nennen; oder ohne dass er das angiebt, in welchem dieselbe von Natur entstehen kann; oder ohne dass er das angiebt, in welchem dieselbe von Natur entstehen kann; oder ohne dass er das angiebt, in welchem sie zunächst entsteht, z.B. wenn er als solches nicht den denkenden Theil der Seele, sondern den Menschen oder die Seele angiebt; in allen diesen Fällen wird er gefehlt haben. Ebenso wäre es ein Fehler, wenn er die Blindheit nicht als die Beraubung des Sehens durch die Augen definirt; denn bei einer richtigen Definition muss das Was und dasjenige, dessen Beraubung das Definirte ist, und ebenso, was das Beraubte ist, angegeben werden.

Auch muss man prüfen, ob etwas durch Beraubung definirt worden ist, was nicht in dieser Weise besteht. Diesen Fehler würden z.B. die begehen, welche diejenige Unwissenheit so definirten, welche nicht als blosse Verneinung des Wissens gemeint ist. Denn in diesem Sinne ist nicht das, was gar kein Wissen hat, unwissend, sondern vielmehr ist der sich Irrende unwissend; deshalb nennt man weder das Leblose, noch die kleinen Kinder unwissend, und diese Unwissenheit gilt deshalb nicht als eine Beraubung des Wissens.

Quelle:
Aristoteles: Die Topik. Heidelberg 1882, S. 149-151.
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