Dreizehntes Kapitel

[200] In welchen Fällen der Fragende bei Disputationen das Zugeständniss von Sätzen oder von deren Gegentheilen ohne Recht verlangt, darüber habe ich, soweit es Disputationen betrifft, welche die Wahrheit zum Ziele haben, in den Analytiken gehandelt; soweit dies aber bei gewöhnlichen Disputationen vorkommt, die nur Wahrscheinliches verlangen, soll hier das Nöthige gesagt werden. Ein solches unbegründetes Verlangen, dass Sätze vom Gegner anerkannt werden sollen, kann in fünffacher Weise geschehen. Zunächst und am offenbarsten dann, wenn die Anerkennung gerade dessen verlangt wird, was zu beweisen ist. Dies kann an sich nicht leicht unbemerkt bleiben, aber bei Worten, die nur eine Bedeutung haben und wo Wort und Begriff dasselbe bezeichnen, kann es wohl vorkommen. Die zweite Weise ist die, wo die Anerkennung eines Satzes, der nur in beschränktem Umfange zu beweisen ist, in seiner Allgemeinheit verlangt wird; z.B. wenn jemand zu beweisen hat, dass gegentheilige Dinge zu einer Wissenschaft gehören und er verlangt, dass man diesen Satz von Gegensätzen überhaupt anerkennen solle; denn hier verlangt er, dass das, was er zu beweisen hat, zugleich noch mit vielem Anderen anerkannt werden solle. Die dritte Weise ist es, wenn ein allgemeiner Satz zu beweisen ist und man verlangt, dass derselbe in beschränkterem Umfange anerkannt werden solle; z.B., wenn von allem Gegentheiligen zu beweisen ist, dass immer nur eine Wissenschaft Beides befasst und für einzelne Gegentheile das Anerkenntniss[200] dieses Satzes verlangt wird; denn auch hier wird das Anerkenntniss von Etwas verlangt, was mit mehrerem Andern erst zu beweisen ist. Viertens, wenn jemand den aufgestellten Satz theilt und für diese Theile einzeln deren Anerkenntniss verlangt; z.B. wenn er zu beweisen hat, dass die Heilkunst sowohl das Gesunde wie Kranke zum Gegenstande habe und er nur das Anerkenntniss des Satzes für jeden dieser Theile besonders verlangt. Fünftens, wenn zwei Sätze gegenseitig auseinander abgeleitet werden können und das Anerkenntniss des einen von beiden verlangt wird, z.B. wenn zu beweisen ist, dass die Diagonale eines Quadrats durch seine Seite nicht gemessen werden kann, und das Anerkenntniss verlangt wird, dass die Seite des Quadrats von der Diagonale desselben nicht gemessen werden kann. Das unbegründete Verlangen, dass das Entgegengesetzte von dem, was anfänglich behauptet worden, anerkannt werde, kann in ebenso vielfacher Weise geschehen, wie es bei dem anfangs aufgestellten Satze geschehen kann. Erstens, wenn jemand das Anerkenntniss der Bejahung und auch der Verneinung desselben Satzes verlangt; zweitens, wenn jemand das Anerkenntniss eines Satzes mit gegentheiligen Begriffen verlangt, z.B., dass das Gute und das Schlechte dasselbe sei. Drittens, wenn jemand zunächst einen allgemeinen Satz aufgestellt hat und dann den entgegengesetzten Satz in beschränktem Umfange anerkannt verlangt; z.B. wenn er zunächst sagt, dass von Gegentheilen es nur eine Wissenschaft gebe und dann verlangt, dass die Wissenschaft vom Gesunden eine andere sei, als die vom Kranken; oder wenn er umgekehrt erst das Zugeständniss dieses Satzes verlangt und dann verlangt, dass man den entgegengesetzten Satz allgemein anerkennen solle. Ferner, wenn jemand das Gegentheil von dem anerkannt verlangt, was aus den aufgestellten Sätzen sich mit Nothwendigkeit ergiebt; endlich, wenn jemand zwar nicht unmittelbar die Gegensätze anerkannt verlangt, aber doch zwei solche Sätze, aus deren Verbindung der Gegensatz sich zusammensetzt. Der Unterschied zwischen der Forderung, gegentheilige Sätze anzuerkennen und der Forderung, dass anfänglich aufgestellte Sätze anerkannt werden sollen, liegt darin, dass letztere ein Fehler in Bezug auf den Schlusssatz sind (denn in Hinblick auf[201] diesen Schlusssatz, sagt man, dass das anfänglich Aufgestellte anerkannt verlangt werde). Bei den einander entgegengesetzten Sätzen liegt aber der Fehler darin, dass sie als Vordersätze benutzt, in dem entgegengesetzten Verhältniss zu einander stehen.

Quelle:
Aristoteles: Die Topik. Heidelberg 1882, S. 200-202.
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