Zweites Kapitel

[181] Bei den Disputationen muss man sich der Schlüsse mehr gegen die im Disputiren Geübten, als gegen die Menge bedienen; dagegen der Induktion mehr gegen die Menge. Ich habe hierüber mich schon früher geäussert. In manchen Fällen kann man auf induktivem Wege durch Fragen das Allgemeine feststellen; in andern Fällen ist es aber nicht leicht, weil die gleichen Gegenstände nicht sämmtlich einen gemeinsamen Namen haben; ist es jedoch nothwendig, das Allgemeine festzustellen, so muss man die Wendung gebrauchen, dass es sich in allen solchen Fällen ebenso verhalte; denn zu unterscheiden, was von den Einzelfällen sich ebenso verhält und was nicht, gehört zu den schwierigsten Aufgaben. Auch gerathen die Disputirenden hierüber oft mit einander in Streit, indem die einen behaupten, dass Dinge einander gleich seien, die es nicht sind, die andern aber die wirkliche Gleichheit bezweifeln. Man muss deshalb versuchen, einen Namen für alle Einzelfälle aufzustellen, damit der Antwortende nicht mehr die Gleichheit des Vorgebrachten bezweifeln kann, und der Fragende nicht fälschlich etwas als gleichbedeutend[181] einschwärzen kann; denn vieles, was nicht gleichbedeutend ist, hat doch einen solchen Anschein.

Wenn trotz einer auf vieles Einzelne gestützten Induktion der Antwortende doch den allgemeinen Satz nicht zugiebt, so kann man verlangen, dass er einen Einwurf dagegen vorbringe. Wenn aber der Sprechende selbst Manches von der Regel ausnimmt, so hat er kein Recht, für das Uebrige einen Einwurf dahin zu verlangen, dass es sich nicht so verhalte; vielmehr hat der Fragende erst seine Induktion auszuführen, ehe er verlangen kann, dass ein Einwurf dagegen aufgestellt werde. Auch kann der Fragende verlangen, dass der Gegner seinen Einwurf nicht gerade gegen den aufgestellten Satz erhebe, es müsste denn sich dabei eben nur um einen einzigen Fall handeln, wie z.B. in dem Satze, dass die Zwei die erste der geraden Zahlen sei; vielmehr muss der Antwortende seinen Einwurf auf andere Fälle richten, oder sagen, dass es sich nur um diesen einen Gegenstand handle. Wenn aber derselbe seinen Einwurf gegen den Satz als allgemeinen erhebt, aber dieser Einwurf von ihm nicht aus demselben Gebiete entnommen wird, sondern aus einem andern, blos gleichnamigen, wenn er z.B. behauptet, dass jemand nicht seine eigene Farbe, oder Hand, oder seine eigenen Füsse haben könne (denn auch der Thiermaler habe Farbe und der Koch Füsse, die nicht die seinen sind), so muss man zunächst diese mehreren Bedeutungen sondern und dann erst fragen; denn so lange der Doppelsinn unbemerkt bleibt, kann es scheinen, der Einwurf sei gegen den richtigen Satz erhoben.

Wenn aber der Einwurf nicht einen blos gleichnamigen, sondern den eigentlichen Gegenstand trifft und so den Fragenden aufhält, so muss dieser das, was von dem Einwurf betroffen wird, absondern und nur das Uebrige wieder in einen allgemeinen Satz fassen, bis er das Brauchbare getroffen hat. Dies gilt z.B. für die Vergesslichkeit und das Vergessen-haben; wenn nämlich der Satz, dass der, welcher das Wissen verloren habe, vergessen habe, nicht zugestanden wird, weil, wenn die Sache verloren gegangen, man zwar das Wissen derselben verloren, aber diese selbst doch nicht vergessen habe. Deshalb muss man, nach Beseitigung dessen, wo der Einwurf zutrifft, das Uebrige in einen allgemeinen Satz fassen, z.B. sagen, dass, wenn[182] jemand trotz des Fortbestehens der Sache die Wissenschaft von ihr verloren habe, so habe er sie vergessen. Ebenso muss man verfahren, wenn gegen den Satz, dass dem grösseren Gut das grössere Uebel entgegensteht, der Einwurf entgegengestellt wird, dass der Gesundheit, obgleich sie ein geringeres Gut als das Wohlbefinden sei, doch ein grösseres Uebel entgegensteht, weil die Krankheit ein grösseres Uebel sei, als das Uebelbefinden. Hier muss man also das, wogegen der Einwurf erhoben worden, beseitigen und den Satz mehr so fassen, dass dem grösseren Gut das grössere Uebel entgegenstehe, ausgenommen, wenn das eine das andere mit sich führe, wie das Wohlbefinden die Gesundheit. Auch muss man dies nicht blos in Folge eines Einwandes thun, sondern selbst dann, wenn ohne Vorbringung eines Einwurfes der Satz blos geleugnet worden ist; denn man kann einen solchen Einwurf erwarten. Wird hier das, was dieser Einwurf trifft, im Voraus ausgenommen, so wird der Gegner genöthigt sein, den Satz anzuerkennen, indem er bei dem so beschränkten Satz keinen solchen Einwurf mehr gegen Einzelnes in Bereitschaft hat; und leugnet der Gegner dennoch, so wird er, wenn man einen Einwurf von ihm verlangt, nichts darauf vorbringen können. Es giebt also solche Sätze, die zum Theil wahr, zum Theil falsch sind, und bei solchen kann man durch Aufstellung einer Ausnahme das Uebrige zu einem wahren Satze erheben. Ist aber ein Satz induktiv durch viele vorgebrachte Fälle begründet worden und kein Einwurf dagegen erhoben worden, so kann man fordern, dass er anerkannt werde; denn ein solcher Satz, welcher durch viele Einzelheiten bestätigt worden und gegen den kein Einwurf erhoben worden, genügt für Disputationen.

Wenn man einen Satz sowohl geradezu, wie vermittelst der Unmöglichkeit des Gegentheils beweisen kann, so ist es für den, welcher einen wirklichen Beweis führen und nicht blos den Gegner im Disputiren besiegen will, gleichgültig, ob er den Beweis auf die eine oder andere Art führen will; dagegen ist bei Disputationen der Unmöglichkeitsbeweis zu vermeiden; denn den directen Beweis kann man nicht bezweifeln; ist aber der Beweis durch die Unmöglichkeit des Gegentheils geführt, so kann der Gegner, im Fall die Unmöglichkeit nicht ganz offenbar[183] ist, immer sagen, es sei doch nicht unmöglich; die Fragenden erreichen also damit nicht das, was sie wollen.

Man muss im Allgemeinen das behaupten, was in vielen Fällen sich so verhält, und wogegen ein Einwurf überhaupt nicht vorhanden ist, oder nicht leicht aufgefunden werden kann; denn da der Gegner hier die Fälle, wo die Regel nicht gilt, nicht übersehen kann, so wird er sie als wahr zugestehen.

Den eigentlichen Schlusssatz muss man mit in eine Frage bringen, denn wenn dies geschieht und der Gegner ihn bestreitet, so ist kein Schluss vorhanden. Denn oft geschieht es, dass selbst, wenn solcher Schlusssatz nicht in die Frage aufgenommen, sondern nur als die nothwendige Folge dargelegt wird, der Gegner ihn doch bestreitet, und indem er so verfährt, hält er sich nicht für widerlegt, weil er die Folgen aus den aufgestellten Sätzen nicht übersieht. Ist aber der Schlusssatz, ohne zu sagen, dass er sich als Folge ergiebt, nur in eine Frage aufgenommen worden, und der Andere bestreitet ihn, so scheint überhaupt kein Schluss zu Stande gekommen zu sein.

Indess ist nicht jede aufgestellte allgemeine Frage zur Disputation geeignet; z.B. die Frage: Was ist der Mensch? oder in wie vielen Bedeutungen wird das Wort: Gut ausgesagt?, denn nur derjenige Satz ist zur Disputation geeignet, auf den man mit ja oder nein antworten kann, was man in diesen beispielsweise genannten Fällen nicht kann und deshalb sind solche Fragen nicht zum Disputiren geeignet, es müsste denn der Fragende selbst das Gefragte trennen und selbst eintheilen, und z.B. fragen: Wird das Gute also in dieser oder jener Bedeutung gesagt? Denn dann ist die Antwort entweder bejahend oder verneinend leicht zu ertheilen. Deshalb muss der Fragende versuchen, solche Sätze in dieser Form aufzustellen. Zugleich kann der Fragende aber auch mit Recht von dem Antwortenden verlangen, dass er selbst angebe, in welchen Bedeutungen er das Gute meine, wenn er der von ihm selbst vorgenommenen Eintheilung und Aufstellung des Satzes nicht beistimmt.

Wer einen Satz lange Zeit hindurch zur Frage stellt, fragt nicht in richtiger Weise; denn hat der Gefragte die Frage beantwortet, so fragt jener entweder vielerlei Fragen oder wiederholt ein und dieselbe. Er[184] treibt also leeres Geschwätz oder er kann den Satz nicht beweisen, denn jeder Beweis bedarf nur weniger Vordersätze. Antwortet aber der Gefragte gar nicht, so thut man unrecht, die Frage zu wiederholen, sondern man muss dann den Gegner tadeln oder von der Disputation abstehen.

Quelle:
Aristoteles: Die Topik. Heidelberg 1882, S. 181-185.
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