Sechsundvierzigstes Kapitel

[89] Bei den Beweisen und Widerlegungen macht es einen Unterschied, ob man annimmt, das: Dieses nicht-sein und das: Nicht-dieses sein bedeuten dasselbe oder verschiedenes wie z.B. das: Weiss nicht-sein und das: Nicht-weiss sein. Indess bezeichnen diese Sätze nicht dasselbe und eben so wenig ist das: Nicht-weiss sein die Verneinung von Weiss sein; sondern dessen Verneinung ist das: Weiss nicht sein. Der Grund hiervon ist folgender: Es verhält sich nämlich das: er kann gehen, zu dem: er kann nicht-gehen, ebenso wie das: es ist weiss, zu dem: es ist nicht-weiss, und wie das: er kennt das Gute, zu dem: er kennt das Nicht-Gute. Denn der Satz: er weiss das Gute, und der Satz: er ist ein das Gute-Wissender sind nicht verschieden; ebenso[89] sind die Sätze: er kann gehen, und: er ist ein Gehen-Könnender, nicht verschieden; mithin sind auch die entgegengesetzten Sätze: er kann-nicht gehen, und: er ist nicht ein Gehen-Könnender, von einander nicht verschieden.

Wenn nun der Satz: er ist-nicht ein Gehen-Könnender dasselbe bezeichnete, wie der Satz: er ist ein Nicht-gehen Könnender, so können sie beide von demselben Gegenstande zugleich ausgesagt werden. (Denn derselbe Mensch kann gehen und nicht-gehen und kennt das Gute und das Nicht-Gute.) Aber eine Bejahung und die ihr widersprechende Verneinung können nicht zugleich in demselben Gegenstande enthalten sein. Wie man das Nicht-Kennen des Guten und das Kennen des Nicht-Guten nicht dasselbe bedeuten, so gilt dies auch eben so von dem: Nicht-gut sein und von dem gut nicht-sein. Denn wenn von sich gleich verhaltenden Sätzen das eine Paar gleich oder verschieden ist, so gilt das auch von dem anderen Paare. Auch das Nicht-gleich sein ist nicht dasselbe wie das: gleich nicht-sein; dem jenen, dem nicht-gleich Seienden liegt etwas unter, nämlich das Ungleiche; diesem aber liegt nichts unter. Deshalb ist auch nicht alles gleich oder ungleich; aber alles ist gleich oder ist-nicht gleich. Auch das: es ist-nicht weisses Holz, und das: es ist-nicht weisses Holz kann nicht zugleich in demselben Gegenstande stattfinden; denn was weisses Holz nicht-ist, muss nicht nothwendig Holz sein und damit erhellt, dass auch von dem: es ist gut, die Verneinung nicht lautet: es ist nicht-gut. Da nun von jedem einzelnen Gegenstande entweder die Bejahung oder die Verneinung wahr ist, so erhellt, dass wenn dieser Satz keine Verneinung ist, er irgendwie eine Bejahung enthält. Nun giebt es aber von jeder Bejahung eine Verneinung und deshalb wird für diesen Satz die Verneinung dahin lauten: es ist-nicht nicht-gut.

Diese Sätze haben folgende Stellung zu einander: A sei das: ist gut; B das: ist nicht-gut; C, was unter B steht, sei das: ist nicht-gut und D, was unter A steht, das: ist-nicht nicht-gut. Hier wird jedem Gegenstande entweder A oder B zukommen und keinem Gegenstande werden sie zugleich zukommen. Eben so wird C oder D jedem Gegenstande zukommen und beide können[90] nicht zugleich demselben Gegenstande zukommen. Auch muss allen Gegenständen, denen C zukommt, auch B zukommen denn wenn man in Wahrheit sagen kann: es ist nicht-weiss, so ist auch wahr, dass es weiss nicht-ist; denn es ist unmöglich, dass etwas zugleich weiss und nicht-weiss ist, oder dass etwas nicht-weisses Holz und weisses Holz ist; mithin gilt die Verneinung, wenn die Bejahung nicht gilt. Dagegen kann von den Gegenständen, denen B zukommt, C nicht immer ausgesagt werden; denn was überhaupt kein Holz ist, kann auch kein nicht-weisses Holz sein. Ebenso kann von allem, dem A zukommt, auch D ausgesagt werden; denn von A muss entweder C oder D gelten; da nun aber A nicht zugleich weiss und nicht-weisses Holz sein kann, so muss dem A das D zukommen; denn von dem, was weiss ist, kann man in Wahrheit aussagen, dass es nicht-weiss nicht-ist. Aber A kann nicht von allem ausgesagt werden, von dem D ausgesagt wird; denn von dem, was überhaupt kein Holz ist, kann man nicht in Wahrheit sagen, dass es weisses Holz ist; folglich kann man von einem Gegenstande das D in Wahrheit aussagen, aber nicht das A, wonach es weisses Holz sein soll. Auch erhellt, dass A und C nicht zugleich von demselben Gegenstande ausgesagt werden können; wohl aber kann B und D in demselben Gegenstande enthalten sein.

In gleicher Weise verhalten sich die Verneinungen zu den Bejahungen bei dieser Zusammenstellung; dann ist z.B. A das Gleiche, B das nicht Gleiche, C das Ungleiche und D das nicht Ungleiche.

Wenn ferner bei mehreren Dingen dieselbe Bestimmung einigen davon zukommt, anderen aber nicht, so wird sowohl die Verneinung, dass diese Dinge nicht alle weiss sind, wie die, dass nicht jedes von ihnen weis ist, gleichmässig wahr sein; aber falsch wäre zu sagen, dass jedes nicht weiss ist, oder dass alle nicht weiss sind. Ebenso ist von dem Satze: jedes Geschöpf ist weiss, die Verneinung nicht: jedes Geschöpf ist nicht-weiss (denn diese Sätze sind beide falsch), sondern Nicht-jedes Geschöpf ist weiss.

Wenn sonach klar ist, dass das: es ist nicht-weiss, und das: es ist-nicht weiss, Verschiedenes bedeuten, und dass das eine eine Bejahung, das andere eine Verneinung[91] ist, so erhellt auch, dass beide Sätze nicht in gleicher Weise bewiesen werden können; z.B. der Satz: Alles, was Geschöpf ist, ist-nicht weiss oder ist-statthafterweise-nicht weiss, und der Satz, dass man in Wahrheit sagen könne, Alles, was Geschöpf ist, sei nicht-weiss; denn letzterer Satz bejaht das Nicht-weiss. Die beiden Sätze, dass man in Wahrheit sagen könne, es sei etwas weiss, und es sei etwas nicht-weiss, sind beide bejahend und man kann beide durch den bejahenden Schluss der ersten Figur beweisen, weil das »in Wahrheit sagen« dem »ist« des Satzes gleich behandelt wird; denn von dem wahrhaft sagen, dass etwas weiss sei, bildet nicht das wahrhaft sagen, dass etwas nicht-weiss sei, das Gegentheil, sondern das nicht-wahrhaft sagen, dass etwas weiss sei. Wenn man also in Wahrheit sagen kann, dass Alles, was Mensch ist, musikalisch oder nicht-musikalisch sei, so ist als Obersatz zu nehmen, dass Alles, was Geschöpf ist, musikalisch oder nicht-musikalisch ist und auf diese Weise wird jener Satz bewiesen. Dagegen wird der Satz, welcher bei allem, was Mensch ist, das musikalische verneint, durch einen verneinenden Schluss nach den drei früher genannten Weisen bewiesen.

Ueberhaupt wird, wenn A und B sich so verhalten, dass beide nicht zugleich in ein und demselben Gegenstande sein können, aber jedem Gegenstande eines von Beiden zukommen muss, und wenn ferner C und D sich ebenso verhalten, und wenn A von allen, dem C zukommt, ausgesagt werden kann, aber dieser Satz A C sich nicht umkehren lässt, so wird auch D von allen ausgesagt werden, denen B zukommt, aber der Satz B D wird sich nicht umkehren lassen und A und D können dann in demselben Gegenstande enthalten sein, aber nicht B und C. Dass hier erstens D dem B zukommt, erhellt daraus, dass jedem Dinge entweder C oder D nothwendig zukommen muss; nun kann aber den Dingen, welchen B zukommt, das C nicht zukommen, weil C mit dem A sich verträgt und A und B nicht in demselben Gegenstande enthalten sein können; hieraus erhellt, dass D dem B zukommen wird.

Da ferner A und C sich nicht austauschen, aber jedem Gegenstande, entweder C oder D zukommen muss, so ist es statthaft, dass A und D demselben Gegenstande[92] zukommen. Dagegen ist dies mit B und C nicht statthaft, weil A dem C zukommt, also dann etwas Unmögliches sich ergäbe. Es erhellt auch, dass B sich nicht mit D austauschen lässt, da es statthaft ist, dass D und A zugleich in einen Gegenstande enthalten sein können.

Es kommt indess auch bei einer solchen Anordnung der Begriffe mitunter vor, dass man sich täuscht, weil man die sich widersprechenden Begriffe, von denen einer nothwendig jedem Dinge zukommen muss, nicht richtig auswählt. Wenn z.B. A und B nicht zugleich in demselben Dinge sein können und nothwendig demselben, wenn ihm das eine nicht zukommt, das andere zukommen muss; und wenn ferner C und D sich eben so verhalten, aber A von jedem, dem C zukommt, ausgesagt wird. Hier könnte gefolgert werden, dass allen dem D zukommt, nothwendig das B zukomme; allein das wäre falsch. Denn man nehme Z als die Verneinung von A und B und T als die Verneinung von C und D, dann muss jedem Dinge entweder A oder Z zukommen, nämlich entweder die Bejahung oder die Verneinung; und ebenso muss jedem Dinge das C oder T zukommen, d.h. entweder die Bejahung oder die Verneinung, und Allen, welchem C zukommt, kommt auch A zu, folglich muss allem, dem Z zukommt, auch T zukommen. Da nun eines von Z und B allen Dingen zukommen muss und ebenso eines von T und D, aber T dem Z zukommt, so wird auch B dem D zukommen, wie aus dem Frühern bekannt ist, also wenn A dem C zukommt, so wird, könnte man sagen, auch B dem D zukommen. Dies ist aber falsch, denn bei den Begriffen, die sich so verhalten, war das Zukommen gerade ein umgekehrtes. Es ist nämlich nicht nothwendig, dass allen Dingen entweder A oder Z zukomme und auch Z oder B; denn das Z ist nicht die Verneinung von A, da von dem Guten das Nicht-Gute die Verneinung ist und das Nicht-Gute ist nicht dasselbe mit dem, was weder gut noch nicht-gut ist. Ebenso verhält es sich mit C und D; denn es sind in dem obigen Falle von einer Bejahung zwei Verneinungen angenommen worden.[93]

Quelle:
Aristoteles: Erste Analytiken oder: Lehre vom Schluss. Leipzig [o.J.], S. 89-94.
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