VI. Betrachtungen über die abstrakten und allgemeinen Vorstellungen, welche ein Mensch erwerben kann, der ohne alle Gesellschaft lebt.

[202] Die geschichtliche Darstellung, die wir von den Erkenntnissen unserer Statue gegeben haben, zeigt deutlich, wie sie die Wesen je nach deren Beziehungen zu ihren Bedürfnissen in verschiedene Klassen theilt, und folglich[203] auch, wie sie sich abstrakte und allgemeine Begriffe bildet. Allein wenn wir die Beschaffenheit ihrer Vorstellungen besser kennen lernen wollen, so kommt es zumeist darauf an dass wir noch mehr in's Einzelne eingehen.

1. Sie hat keine allgemeine Vorstellung, die nicht zunächst eine Einzelvorstellung gewesen wäre. Die allgemeine Vorstellung »Orange« z.B. ist ursprünglich nur die Vorstellung einer bestimmten Orange.

2. Wenn ein Gegenstand für die Sinne wirklich vorhanden ist, so ist die Einzelvorstellung die Vereinigung mehrerer Eigenschaften, die sich beisammen zeigen. Die Vorstellung einer bestimmten Orange ist Farbe, Form, Geschmack, Geruch, Festigkeit, Schwere etc.

3. Wenn das Objekt nicht mehr auf die Sinne wirkt, so ist diese Einzelvorstellung die Erinnerung, welche von dem übrig bleibt, was man mit dem Gesicht, Geschmack, Geruch etc. erkannt hat. Schliesse die Augen: so ist die Vorstellung des Lichts die Erinnerung an einen Eindruck, den Du erlitten hast; rühre nichts an: so ist die Vorstellung der Festigkeit die Erinnerung an den Widerstand, den Du erfahren, als Du die Körper unter den Händen hattest, und so fort.

4. Setzen wir nach und nach und eine um die andere mehrere Orangen an die Stelle der ersten, und sind diese alle einander ähnlich, so wird unsere Statue immer die nämliche zu sehen glauben und nur eine Einzelvorstellung dabei haben. Sieht sie zwei auf einmal, so erkennt sie alsbald an jeder die nämliche Einzelvorstellung, und diese Vorstellung wird ein Schema, mit welchem sie dieselben vergleicht und mit dem, wie sie sieht, beide übereinstimmen. Auf dieselbe Weise wird sie entdecken, dass diese Vorstellung drei, vier Orangen gemeinsam ist, und sie so allgemein machen, als sie für sie nur immer sein kann.

Die Einzelvorstellung eines Pferdes und die eines Vogels werden gleicher Weise allgemein werden, wenn die Umstände einen Vergleich mehrerer Pferde und mehrerer Vögel herbeiführen, und so bei allen sinnlich wahrnehmbaren Dingen.

Da die Statue keine Bezeichnung anwenden kann, so kann sie ihre Vorstellungen nicht gehörig ordnen und folglich auch nicht so allgemeine haben, wie wir. Aber eben so wenig kann sie völlig ohne allgemeine Vorstellungen[204] sein. Wenn ein Kind, das noch nicht spricht, keine so allgemeine hätte, dass sie wenigstens zwei oder drei Einzelwesen gemeinsam sind, so könnte man es nie sprechen lehren; denn man kann nur darum anfangen, eine Sprache zu sprechen, weil man, ehe man sie spricht, etwas zu sagen, weil man allgemeine Vorstellungen hat; jeder Satz muss nothwendig solche enthalten.

Hat sie die allgemeinen Vorstellungen »Orange«, »Pferd«, »Vogel«, so wird sie unsere Statue aus demselben Grunde unterscheiden, wie sie eine Orange von einem Vogel, einen Vogel von einem Pferde unterscheidet. Sie bezieht also jedes dieser Einzeldinge auf das allgemeine Schema, das sie in der Vorstellung hat, d.h. auf die Klasse, auf die Art, zu der es gehört.

Wie nun aber ein Schema, das zu mehreren Einzeldingen passt, eine allgemeine Vorstellung ist, ebenso sind zwei, drei Schemata, unter welche man ganz verschiedene Einzeldinge stellt, verschiedene Klassen, oder, mit den Philosophen zu reden, verschiedene Gattungen allgemeiner Begriffe.

5. Wenn ihre Blicke auf eine Landschaft fallen, so nimmt sie viele Bäume wahr, deren Verschiedenheit sie noch nicht bemerkt; sie sieht blos das, was sie gemein haben, dass jeder Zweige, Blätter hat, und dass sie an dem Orte, wo sie wachsen, stehen bleiben. Das ist das Modell der allgemeinen Vorstellung »Baum.«

Darauf geht sie von einem zum andern, beobachtet die Verschiedenheit der Fruchte, bildet sich Schemata, nach denen sie ebenso viele Baumarten unterscheidet, als sie Fruchtsorten bemerkt, und diese Vorstellungen sind nun weniger allgemein als die erste.

Ebenso wird sie sich die allgemeine Vorstellung »Thier« bilden, wenn sie in der Ferne mehrere Thiere sieht, deren Verschiedenheit ihr noch entgeht, und dieselben in mehrere Arten unterscheiden, wenn sie nah genug ist, um zu sehen, worin sie verschieden sind.

6. Sie verallgemeinert also um so mehr, je undeutlicher sie sieht, und bildet sich um so engere Begriffe, je mehr Verschiedenheit sie an den Dingen herausfindet. Man sieht daraus, wie leicht es ihr wird, sich allgemeine Vorstellungen zu bilden.25

Zunächst erscheinen ihr z.B. alle Aepfel nach einem[205] und demselben Schema zu sein. Allein weiterhin findet sie nicht bei jedem einen gleich angenehmen Geschmack. Nun bewirkt das Verlangen nach Lust und die Scheu vor Unlust, dass sie dieselben nach allen Beziehungen, die sie auffinden kann, vergleicht; sie lernt sie um Anblick, am Geruch, am Gefühl unterscheiden, bildet sich darnach verschiedene Schemata, die sie bei ihrer Auswahl leiten können, und theilt sie in so viele Klassen, als sie Verschiedenheiten bemerkt.

7. Was die Dinge betrifft, die sie weder der Lust, noch des Schmerzes wegen interessiren, so verschwinden sie in der Menge, und sie erlangt keine Kunde von ihnen.

Wir brauchen nur über uns nachzudenken, um uns von der Wahrheit des Gesagten zu überzeugen. Alle Menschen haben dieselben Empfindungen: allein das Volk, das von mühsamen Arbeiten in Anspruch genommen ist, der Weltmann, der ganz in nichtigen Dingen aufgeht, und der Philosoph, dem das Studium der Natur zum Bedürfniss geworden, sind weder für die gleichen Freuden, noch für die gleichen Schmerzen empfänglich. Auch gewinnen sie aus gleichen Empfindungen ganz verschiedene Erkenntnisse.

8. Unsere Statue bildet sich also Gattungsvorstellungen in folgender Ordnung. Zunächst nimmt sie nur sie auffälligsten Verschiedenheiten wahr und hat sehr allgemeine Vorstellungen, jedoch nur in geringer Zahl.

Fällt ihr besonders die Farbe auf, so wird sie aus mehreren Blumengattungen nur eine Klasse machen; ist es der Umfang, so werden ein Hase und eine Katze für sie nur eine einzige Thiergattung sein.[206]

Da ihre Bedürfnisse ihr weiterhin Veranlassung geben, auch andere Eigenschaften an den Dingen zu berücksichtigen, so wird sie Gattungen bilden, die den ersten untergeordnet sind. Aus einem allgemeinen Begriff bilden sich mehrere minder allgemeine.

Von den Einzelvorstellungen geht sie also gleich zu den allgemeinsten über; von da steigt sie zu engeren herab, je mehr sie die Verschiedenheit der Dinge bemerkt. So erwirbt ein Kind, nachdem es alles Gelbe »Gold« genannt hat, später die Vorstellungen »Messing«, »Tomback«, und macht aus einer allgemeinen Vorstellung mehrere weniger allgemeine.

9. Aus der Erzeugung dieser Vorstellungen erhellt, dass sie unserer Statue nur verschieden kombinirte Eigenschaften darstellen werden. Sie sieht z.B. in Allem, was sie berührt, Festigkeit, Ausdehnung, Theilbarkeit, Gestalt, Beweglichkeit etc. vereinigt und hat folglich die Vorstellung »Körper«. Aber wenn man sie fragen wollte, was ein Körper sei, und sie antworten könnte, so würde sie auf einen zeigen und sagen: »Dieses hier«, d.h. das, woran Du zugleich Festigkeit, Ausdehnung, Theilbarkeit, Gestalt etc. finden wirst.

10. Ein Philosoph würde antworten: er ist ein Wesen, eine ausgedehnte, feste etc. Substanz. Vergleichen wir diese beiden Antworten, so werden wir sehen, dass er die Natur des Körpers nicht besser kennt, als sie. Sein einziger Vortheil, wenn es einer ist, bestellt darin, dass er sich eine Sprache gebildet hat, die nur darum gelehrt klingt, weil sie nicht die des gewöhnlichen Lebens ist. Denn die Worte »Wesen«, »Substanz« bedeuten wirklich nichts weiter als das Wort »Dieses«.

11. Man muss daraus schliessen, dass die Vorstellungen, die sie von den Sinnendingen hat, unklar sind; denn unklar nenne ich jede Vorstellung, die nicht alle Eigenschaften ihres Gegenstandes vergegenwärtigt. Nun hat sie aber von keinem Körper eine so vollkommene Kenntniss sie sieht nur die Eigenthümlichkeiten an ihm, zu deren Beachtung sie ihre Bedürfnisse veranlassen. Bei grösserem Scharfsinn würde sie eine grössere Zahl derselben unterscheiden, und wenn sie ganz in die Natur der Wesen eindringen könnte, so würde sie nicht zwei[207] völlig gleiche finden. Nur darum also nimmt sie an, dass mehrere von einander nicht verschieden seien, weil sie dieselben undeutlich sieht.

12. Was ihre abstrakten Vorstellungen betrifft, so giebt es verworrene und deutliche. – Sie kennt z.B. einen Ton hinlänglich, um ihn von einem Geruch, einem Geschmack und von jedem andern Ton zu unterscheiden; allein er erscheint ihr einfach, obwohl er vielfach ist.26 Mehrere Farben kommen ihr, unter einander gemischt, nur wie eine einzige vor. Ebenso ist's mit allen Sinneseindrücken. Sie findet also nicht Alles heraus, was sie enthalten, und noch weniger gelingt es ihr, alle Ursachen zu entdecken, welche zu jeder einzelnen Empfindung zusammenwirken. Hierin hat sie also nur sehr unklare Begriffe.

Aber diese selben Empfindungen geben ihr Vorstellungen von Grösse und Gestalt, und wenn sie auch die Grösse und Gestalt der Körper nicht mit Sicherheit scharf zu bestimmen, noch die Verhältnisse, in denen sie zu einander stehen, genau anzugeben vermag, so weiss sie doch, wie eine Grösse das Doppelte oder die Hälfte einer andern sein kann, und kennt eine Linie, ein Dreieck, ein Viereck recht wohl. In dieser Beziehung hat sie also deutliche Vorstellungen. Sie braucht dazu nur die Grössen ohne Rücksicht auf die Objekte zu betrachten.

13. Aus diesen zweierlei Vorstellungen entstehen zweierlei Wahrheiten. Wenn die Statue bemerkt, dass ein Körper dreieckig ist, so fällt sie ein Urtheil, das falsch werden kann, denn jener Körper kann seine Gestalt andern; allein wenn sie bemerkt, dass ein Dreieck drei Seiten hat, so ist ihr Urtheil wahr und wird es immer sein, da ja drei Seiten die Vorstellung des Dreiecks bestimmen. Sie nimmt also Wahrheiten wahr, die sich andern oder andern können, so oft sie darüber urtheilen will, wie die Dinge beschaffen sind; hinwiederum nimmt sie Wahrheiten wahr, die sich nicht andern, so oft sie sich auf Urtheile über die deutlichen und[208] abstrakten Vorstellungen, die sie von den Grössen hat, beschränkt.

Folglich hat sie ohne andere Beihülfe als die der Sinne Erkenntnisse aller Art.

Quelle:
Condillac's Abhandlung über die Empfindungen. Berlin 1870, S. 202-209.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Abhandlung über die Empfindungen
Abhandlungen über die Empfindungen.

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