Vorwort zum zweiten Buche

Das Erscheinen des zweiten Buches und besonders der letzten Hälfte desselben ist durch die Zunahme einer schweren Krankheit, welche mir nur noch wenig Arbeitskraft übrig läßt, sehr verzögert worden. Es war mir aus gleichem Grunde unmöglich, einige bedeutende Erscheinungen der letzten Zeit, welche meinen Gegenstand sehr nahe berühren, noch in den Kreis meiner Erörtertungen hineinzuziehen. Hauptsächlich bedaure ich dies hinsichtlich der Rede Tyndalls über Religion und Wissenschaft und der drei Abhandlungen über die Religion von Stuart Mill.

Mit Tyndalls Rede ist für England, welches eine so große Rolle spielt in der Geschichte des Materialismus, eine neue Periode gleichsam offiziell verkündigt worden. Der alte faule Frieden zwischen Naturwissenschaft und Theologie, den schon Huxley und neuerdings auch Darwin erschüttert hatten, ist gebrochen, und die Naturforscher verlangen das Recht, unbekümmert um irgendwelche kirchliche Traditionen die Konsequenzen ihrer Weltanschauung nach allen Seiten geltend zu machen. Der Religion wird unter Anlehnung an die Philosophie Spencers ihr Fortbestand verbürgt, aber es wird fortan nicht mehr als gleichgültig hingenommen, in was für Dogmen und mit welchen Ansprüchen an den Glauben die religiösen Gefühle sich ausprägen. Damit aber wird, wie schon früher in Deutschland, ein Kampf eröffnet, der nur mit der Erhebung der Religion in das Gebiet des Ideals ein friedliches Ende finden kann.

Höchst bemerkenswert war mir, wie nahe Stuart Mill in seiner Abhandlung über den Theismus, der letzten größeren Arbeit seines Lebens, dem Standpunkte gekommen ist, dessen Begründung auch das Resultat unsrer Geschichte des Materialismus ist. Der unerbittliche Empiriker, der Vertreter der Nützlichkeitsphilosophie, der Mann, welcher in so manchem früheren Werke nur das Verstandesprinzip zu kennen schien, macht hier das Zugeständnis, daß das enge und dürftige Leben des Menschen einer Erhebung zu höheren Hoffnungen von unsrer Bestimmung gar sehr bedürftig ist und daß es weise erscheint, der Phantasie die Ausbildung dieser Hoffnungen[449] zu überlassen, soweit sie nur nicht mit offenbaren Tatsachen in Konflikt kommt. Wie die allgemein geschätzte Heiterkeit des Gemütes auf der Neigung beruht, bei der schöneren Seite der Gegenwart und Zukunft in Gedanken zu verweilen, – und das heißt doch wohl, das Leben unwillkürlich zu idealisieren: so sollen wir vom Weltregiment und von unsrer Zukunft nach dem Tode günstiger denken, als die sehr geringe Wahrscheinlichkeit dieser Dinge uns erlauben würde; ja es wird sogar das Idealbild Christi nicht nur als ein Hauptvorzug des Christentums dargestellt, sondern als etwas, das auch der Ungläubige sich aneignen kann.

Wie weit ist es von hier noch bis zu unserem Standpunkt des Ideals? Die geringe, fast verschwindende Wahrscheinlichkeit, daß unsre Phantasiegebilde Wirklichkeit haben möchten, ist doch nur ein schwaches Band zwischen Religion und Wissenschaft, und im Grunde nur eine Schwäche des ganzen Standpunktes; denn es steht ihr eine weit überwiegende Wahrscheinlichkeit des Gegenteils gegenüber, und im Gebiete der Wirklichkeit fordert die Sittlichkeit des Denkens von uns, daß wir uns nicht an vage Möglichkeiten halten, sondern stets dem Wahrscheinlicheren den Vorzug geben. Ist das Prinzip einmal gegeben, daß wir uns im Geiste eine schönere und vollkommnere Welt schaffen sollen, als die Welt der Wirklichkeit, so wird man wohl auch den Mythus – als Mythus – müssen gelten lassen. Wichtiger aber ist, daß wir uns zu der Erkenntnis erheben, daß es dieselbe Notwendigkeit, dieselbe transzendente Wurzel unsres Menschenwesens ist, welche uns durch die Sinne das Weltbild der Wirklichkeit gibt, und welche uns dazu führt, in der höchsten Funktion dichtender und schaffender Synthesis eine Welt des Ideals zu erzeugen, in die wir aus den Schranken der Sinne flüchten können, und in der wir die wahre Heimat unsres Geistes wiederfinden.


Marburg, Ende Januar 1875.

A. Lange[450]

Quelle:
Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Frankfurt am Main 1974, S. 447-451.
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Geschichte des Materialismus
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