Morgenröte

Gedanken über die Moral als Vorurteil

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[1124] Mit diesem Buche beginnt mein Feldzug gegen die Moral. Nicht daß es den geringsten Pulvergeruch an sich hätte – man wird ganz andre und viel lieblichere Gerüche an ihm wahrnehmen, gesetzt, daß man einige Feinheit in den Nüstern hat. Weder großes, noch auch kleines Geschütz: ist die Wirkung des Buches negativ, so sind es seine Mittel um so weniger, diese Mittel, aus denen die Wirkung wie ein Schluß, nicht wie ein Kanonenschuß folgt. Daß man von dem Buche Abschied nimmt mit einer scheuen Vorsicht vor allem, was bisher unter dem Namen Moral zu Ehren und selbst zur Anbetung gekommen ist, steht nicht im Widerspruch damit, daß im ganzen Buch kein negatives Wort vorkommt, kein Angriff, keine Bosheit – daß es vielmehr in der Sonne liegt, rund, glücklich, einem Seegetier gleich, das zwischen Felsen sich sonnt. Zuletzt war ich's selbst, dieses Seegetier: fast jeder Satz des Buches ist erdacht, erschlüpft in jenem Felsen-Wirrwarr nahe bei Genua, wo ich allein war und noch mit dem Meere Heimlichkeiten hatte. Noch jetzt wird mir, bei einer zufälligen Berührung dieses Buchs, fast jeder Satz zum Zipfel, an dem ich irgend etwas Unvergleichliches wieder aus der Tiefe ziehe: seine ganze Haut zittert von zarten Schaudern der Erinnerung. Die Kunst, die es voraus hat, ist keine kleine darin, Dinge, die leicht und ohne Geräusch vorbeihuschen, Augenblicke, die ich göttliche Eidechsen nenne, ein wenig fest zu machen – nicht etwa mit der Grausamkeit jenes jungen Griechengottes, der das arme Eidechslein einfach anspießte, aber immerhin doch mit etwas Spitzem, mit der Feder... »Es gibt so viele Morgenröten, die noch nicht geleuchtet haben« – diese indische Inschrift steht auf der Tür zu diesem Buche. Wo sucht sein Urheber jenen neuen Morgen, jenes bisher noch unentdeckte zarte Rot, mit dem wieder ein Tag – ah, eine ganze Reihe, eine ganze Welt neuer Tage! – anhebt? In einer Umwertung aller Werte, in einem Loskommen von allen Moralwerten, in einem Jasagen und Vertrauen-haben zu alledem, was bisher[1124] verboten, verachtet, verflucht worden ist. Dies jasagende Buch strömt sein Licht, seine Liebe, seine Zärtlichkeit auf lauter schlimme Dinge aus, es gibt ihnen »die Seele«, das gute Gewissen, das hohe Recht und Vorrecht auf Dasein wieder zurück. Die Moral wird nicht angegriffen, sie kommt nur nicht mehr in Betracht... Dies Buch schließt mit einem »Oder?« – es ist das einzige Buch, das mit einem »Oder?« schließt...


2

Meine Aufgabe, einen Augenblick höchster Selbstbesinnung der Menschheit vorzubereiten, einen großen Mittag, wo sie zurückschaut und hinausschaut, wo sie aus der Herrschaft des Zufalls und der Priester heraustritt und die Frage des warum?, des wozu? zum ersten Male als Ganzes stellt –, diese Aufgabe folgt mit Notwendigkeit aus der Einsicht, daß die Menschheit nicht von selber auf dem rechten Wege ist, daß sie durchaus nicht göttlich regiert wird, daß vielmehr gerade unter ihren heiligsten Wertbegriffen der Instinkt der Verneinung, der Verderbnis, der décandence-Instinkt verführerisch gewaltet hat. Die Frage nach der Herkunft der moralischen Werte ist deshalb für mich eine Frage ersten Ranges, weil sie die Zukunft der Menschheit bedingt. Die Forderung, man solle glauben, daß alles im Grunde in den besten Händen ist, daß ein Buch, die Bibel, eine endgültige Beruhigung über die göttliche Lenkung und Weisheit im Geschick der Menschheit gibt, ist, zurückübersetzt in die Realität, der Wille, die Wahrheit über das erbarmungswürdige Gegenteil davon nicht aufkommen zu lassen, nämlich, daß die Menschheit bisher in den schlechtesten Händen war, daß sie von den Schlechtweggekommenen, den Arglistig-Rachsüchtigen, den sogenannten »Heiligen«, diesen Weltverleumdern und Menschenschändern regiert worden ist. Das entscheidende Zeichen, an dem sich ergibt, daß der Priester (– eingerechnet die versteckten Priester, die Philosophen) nicht nur innerhalb einer bestimmten religiösen Gemeinschaft, sondern überhaupt Herr geworden ist, daß die décadence-Moral, der Wille zum Ende, als Moral an sich gilt, ist der unbedingte Wert, der dem Unegoistischen, und die Feindschaft, die dem Egoistischen überall zuteil wird. Wer über diesen Punkt mit mir uneins ist, den halte ich für infiziert... Aber alle Welt ist mit mir uneins... Für einen[1125] Physiologen läßt ein solcher Wert-Gegensatz gar keinen Zweifel. Wenn innerhalb des Organismus das geringste Organ in noch so kleinem Maße nachläßt, seine Selbsterhaltung, seinen Kraftersatz, seinen »Egoismus« mit vollkommner Sicherheit durchzusetzen, so entartet das Ganze. Der Physiologe verlangt Ausschneidung des entarteten Teils, er verneint jede Solidarität mit dem Entarteten, er ist am fernsten vom Mitleiden mit ihm. Aber der Priester will gerade die Entartung des Ganzen, der Menschheit: darum konserviert er das Entartende – um diesen Preis beherrscht er sie... Welchen Sinn haben jene Lügenbegriffe, die Hilfsbegriffe der Moral, »Seele«, »Geist«, »freier Wille«, »Gott«, wenn nicht den, die Menschheit physiologisch zu ruinieren?... Wenn man den Ernst von der Selbsterhaltung, Kraftsteigerung des Leibes, das heißt des Lebens ablenkt, wenn man aus der Bleichsucht ein Ideal, aus der Verachtung des Leibes »das Heil der Seele« konstruiert, was ist das anderes, als ein Rezept zur décadence? – Der Verlust an Schwergewicht, der Widerstand gegen die natürlichen Instinkte, die »Selbstlosigkeit« mit einem Worte – das hieß bisher Moral... Mit der »Morgenröte« nahm ich zuerst den Kampf gegen die Entselbstungs-Moral auf. –[1126]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 1124-1127.
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Der Fall Wagner. Götzen- Dämmerung. Der Antichrist. Ecce homo. Dionysos- Dithyramben. Nietzsche contra Wagner. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
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