Dritter Brief.

An den Herrn Hofmeister Meyer in Göttingen.

[41] Urfstädt den 30sten Merz 1770.


Es liegt mir sehr am Herzen, mein lieber Freund! daß Sie doch ja nicht versäumen mögen, sich so genau als nur irgend möglich ist, nach den Umständen des Gefangenen im Kloster zu erkundigen, und ich schreibe Ihnen deswegen diesen Brief, den Sie, wie ich hoffe, noch vor Ihrer Abreise auf das Eichsfeld bekommen sollen, um Sie nochmals zu bitten, die äusserste Sorgfalt in Ihren Nachforschungen darüber anzuwenden.

Es würde über den Rest meines Lebens Ruhe und Freude verbreiten, wenn ich meinen alten Freund wiederfinden, ihn aus seinem Unglücke erlösen, und meinem Carl seinen[41] Vater wiederschenken könnte. Er war ein gar lieber, herrlicher Mensch, obgleich seine übertriebene Lebhaftigkeit ihn zu manchen Fehltritt verleitete, der die ernsthaften Herrn wieder ihn empörte, und ihm, während der Zeit, da er in ... diente,1 manchen Feind auf den Hals zog. Die Schicksale, die mein armer Freund litt, könnten Stoff zu einem ganzen Roman hergeben. Nicht leicht ist jemand so sehr verkannt worden, als dieser edle junge Mann. Jedermann erlaubte sich über seine Handlungen zu raisonieren, und darunter waren oft Leute, die ihn gewiß nicht im Geringsten übersehen konnten.

Man sollte nie über kluger Leute Handlungen urtheilen, denn das heißt ja offenbar gesagt, daß man sich noch klüger als sie dünkt. Wer kann dem Menschen ins Herz sehen? Wer weiß, mit welchen stürmischen Leidenschaften[42] (die immer bey lebhaften Geistern stärker sind) er zu streiten, mit was für geistlichen Feinden er zu kämpfen hat, welche freylich aus einem Tummen an allen Ecken die Köpfe herausstecken, die der weisere Mann aber sorgfältig verbirgt, indem er lieber in der Stille leidet und ringt. Was man einem klugen Manne über Bezwingung dieser Leidenschaften sagen kann, hat er gewiß längst eingesehen, fühlt besser als ein Anderer, wie tief ihn seine Schwachheiten erniedrigen. Und dann, wie oft hat man nicht aus dem Manne selbst, durch schlechte Behandlung, gemacht, was er ohne das nie seyn würde. »Sagt Euch ins Ohr, oder laut: Behandelt den Mann so, und Ihr werdet erstaunen, was noch aus ihm werden kann und – wird. Er ist nicht so schlimm als er scheint. Sein Gesicht ist besser als seine Thaten. Zwar auch seine Thaten sind lesbar in seinem Gesichte – aber noch mehr als die, deutlicher noch, die große Kraft, die Empfindsamkeit, die Lenksamkeit des nie recht[43] gelenkten Herzens – Dieselbe Kraft, die dies Laster hervorgebracht – gebt ihr eine andre Richtung; gebt ihr andre Gegenstände, und sie wird Wundertugenden verrichten.«2 – Ich muß bekennen, daß ich noch immer gefunden habe, daß der kluge Mann der bessere Mann ist, und daß Tugend und Weisheit unzertrennlich sind. Der Einfältige kann kein feines Gefühl haben, und ohne Delicatesse ist alle Tugend keine Tugend. Wenn wir von einem Menschen sagen: er ist klug; schade, daß er seinen Verstand schlecht anwendet! so ist das nicht wahr. Der Mann kann listig gewesen seyn, aber klug war er nicht, oder er war kein Bösewicht, sondern ein Irrender, auf einem Wege, den jener vielleicht nicht einmal den Muth hat zu betreten. So glaubt ein dicker, pflegmatischer[44] Holländer Recht zu haben auf Alexandern zu schimpfen, weil er nach der Oberherrschaft der Welt strebte. Der Kluge, wenn er in einen Fehler fällt, hilft sich bald heraus, denn er fühlt, daß er sich in seinen eigenen und andrer Rechtschaffenen Augen herabsetzt – Wenigstens fühlt er das in gewissen Augenblicken, die dann mehr werth sind, als das ganze Leben eines Tölpels. Der Tumme fühlt nichts, und fällt ohne Rettung. Aber man wird finden, daß der Weise sehr viel, der Thor aber selten Feinde hat, und das ist natürlich. Neid! Neid ist hier der unversönliche Ankläger.

So gieng es denn auch dem armen Hohenau. Vielleicht haben wenig Menschen, vom Frühling ihres Lebens an, ein so hartes Schicksal gelitten, als er. O! wenn es mir doch gelünge, nach langjährigem Jammer, ihm noch zuletzt einige glückliche Jahre zu verschaffen, und an der Seite dieses ersten Freundes meiner Jugend mein Leben zu beschliessen![45] – Allein, wie schwach ist nicht dieser Strahl von Hofnung! Kann es nicht ohnzählige andre Gefangne in Klöstern geben?

Nun muß ich Ihnen von einem sehr ernsthaften Handel Nachricht geben, der mir, die Wahrheit zu gestehen, einige Unruhe macht; doch hoffe ich, es soll nichts zu bedeuten haben.

Urfstädt nebst den dazu gehörigen Dörfern hatte ehemals der Familie von Wallitz gehört, und war durch Tausch in meiner Voreltern Besitz gekommen. Es scheint man hatte nicht die Vorsicht gebraucht, genau nachzuforschen, ob noch jemand von dem Stamme sonst irgendwo vorhanden wäre, der diesen Contract nichtig machen, und an den Gütern etwas zu fordern haben könnte. Alles war aber still davon. Meine Verwandten nahmen daher die Güter in Besitz, jene bekamen theils Geld, theils an andern Oertern gelegene Grundstücke, und die Lehnsherrn willigten[46] ein. Die Familie von Wallitz verkaufte sodann mit landesherrschaftlicher Einwilligung ihre eingetauschten Grundstücke wieder, darum sich die Meinigen weiter nicht bekümmerten, und wir blieben im ruhigen Besitze ihrer Güter. Endlich waren sogar die Wallitze, unserer Meinung nach, gänzlich ausgestorben, als plötzlich, noch vor Ablauf der in den Rechten bestimmten Zeit, im Jahr 1700 ein junger Mann von dieser Familie aus Ostindien ankam, seine Ansprüche auf diese ohne seine Beystimmung verkauften Güter gelten machen wollte, und deswegen meinen Vater belangte. Unterdessen dauerte es, wie gewöhnlich lange, ehe die Sache ins Klare gebracht wurde, Zwar legitimirte sich der junge Mensch halb und halb als den nächsten Erben, und hätte mein Vater einen Vergleich mit ihm geschlossen; so wäre ich wohl itzt aller Weitläuftigkeit überhoben. Allein eben die Langsamkeit der Gerichte, und die geringen Vermögensumstände des jungen Wallitz bewogen vermuthlich schlechte Rathgeber,[47] meinen Vater davon abzuhalten. Der Gegner, der Officier war, konnte das Ende des Rechtshandels nicht abwarten, er reisete also zurück nach Ostindien, und ließ die Sache in den Händen eines Sachwalters, der sie nicht betrieb, und also blieb alles in Wetzlar liegen, niemand dachte weiter daran, und ich selbst hatte kaum im Vorbeygehen davon reden gehört.

Auf einmal kömmt vor wenig Wochen der Sohn dieses Wallitz, ein Mann von etwa 50 Jahren, mit einem sehr großen Vermögen aus dem andern Welttheile zurück, erneuert seine Ansprüche, und hat nichts geringers im Sinne, als mich um den größten Theil des Meinigen zu bringen.

Sobald ich hiervon Nachricht bekam, fuhr ich zu ihm in die Stadt. Ich sagte ihm über diesen Gegenstand, was ein redlicher Mann, der kein fremdes Gut besitzen, aber auch aus einer gerecht, für baares Geld erkauften Besitzung[48] sich nicht mag verdrängen lassen, sagen kann, fand ihn aber von so rauen Sitten, und so übermüthig, daß ich gänzlich unbefriedigt nach Hause kehrte. Der Mann ist reich, und hat keine Kinder. Wie seine Beweise beschaffen sind, weiß ich nicht, aber immer kann es ein weitläuftiger Handel werden, und ich dächte, ein Mann der so lange umhergekreutzt ist, und so manche Gefahr zu Wasser und zu Lande ausgestanden hat, sollte sich nach Ruhe sehnen, und nicht einen unschuldigen, friedfertigen, zum Vergleich geneigten Menschen plagen. Sein hiesiger Advocat ist ein böser arglistiger Mann, der Curator über verschiedene in Concurs gerathene Güter ist, und die Sachen in einer solchen Verwirrung erhält, daß nie Hofnung zu Befreyung derselben erscheint. Auf diesen Gütern spielt er den Herrn, und zieht das beste daraus, indeß den armen Besitzern kaum der nothdürftige Unterhalt gereicht wird. Es ist grausam hart, daß in unsern Gegenden die Gerichte nicht wachsamer auf solche himmelschreyende[49] Ungerechtigkeiten sind. Nun, dieser böse Mann ist der Anwald des Herrn von Wallitz, und macht vier Finger dicke Schriften, worinn nicht zu einem halben Bogen Sachen stehn.

So wenig ich bis itzt Ursache habe zu fürchten, daß meines Gegners Forderungen gerecht sind; so habe ich doch eine gewisse Angst, die mir wenig Ruhe läßt. Ich habe so lange in Frieden gelebt, niemand gekränkt, und manchem mit meinem Ueberflusse dienen können – Es würde ein grausamer Schlag für mich seyn, wenn die Sache übel ausfallen sollte. Ich würde gar nicht Gelegenheit haben mich an meines Gegners Verwandten zu erholen; Sie sind alle theils verarmt, theils fortgegangen. Der letzte, der noch vor langen Jahren in diesen Gegenden wohnte, war ein sehr ausschweifender Mann. Er verführte, obgleich er selbst verheyrathet war, zwey unschuldige Schwestern, die hinterlassenen Töchter seines Bruders, deren er sich[50] väterlich anzunehmen versprochen hatte, und als dies ruchtbar wurde, entwischte er, hinterließ die arme Frau und eine Menge unbezahlter Schulden, ertrank aber elendiglich im Rhein.

Ich werde, um mehr Licht in diesem ganzen Processe zu bekommen, den ehrlichen Müller vielleicht bald nach Wetzlar reisen lassen müssen. Es wird mir dort gewiß nützliche Dienste leisten können, und unterdessen will ich mich nicht vor der Zeit ängstigen.

Da die Accisschreibersstelle, welche ich hier zu vergeben habe, erledigt ist; so bitte ich Sie, mein Lieber! mir Ihren Bedienten Birnbaum zu schicken, dem ich diesen kleinen Dienst lange zugedacht habe. Er kann mit Weckel, wenn dieser durch Göttingen kömmt, reisen, und sich nachher mit seiner treuen Jungfer Sievers vermählen. Sie werden leicht einen andern Waffenträger finden.[51]

Die Nachricht, daß Sie und mein lieber Carl Freymäurer geworden sind, freuet mich unendlich. Nun muß ich Ihnen freundschaftlich rathen, den geraden Weg zu gehen, der Sie gewiß einst zu einem Ziele führen wird, wovon Sie itzt schwerlich die Spuren errathen. Lesen Sie zwar alles, was über den Orden gedruckt worden ist, aber glauben Sie niemals etwas davon. Wer über den Zweck desselben Bücher schreibt; kennt gewiß den Zweck nicht, sondern mögte nur gern ein mystisches Schild aushenken, das die Leute anstaunen sollen, worüber aber der kluge Profane nur, und das mit Recht, spottet, woraus der unterrichtete Maurer nichts lernen kann, und wodurch der unwissende nicht klüger wird. Zudem beweißt es nichts, wenn man etwas Artiges darüber sagt, und ein Ideal darstellt, dessen Würklichkeit niemand untersuchen kann. Was ich hier rede gilt auch von den allervernünftigsten Freymaurerschriften, denn vor dem platten, närrischen, unverständlichen Unsinn, der in[52] manchen derselben herrscht, wird schon Ihre eigene Vernunft Sie zurückscheuchen. Die stille, weise Wahrheit redet durch Thaten, nicht durch Worte, was aber der gesunden Vernunft wiederspricht, kann nie etwas Großes seyn. Also gehen Sie den geraden Gang! Sie werden Sich schon einst selbst ein Licht aufstecken können, und dann bald genug einen Mann finden, der es Ihnen, wenn er merkt, daß es fest und grade steckt, anzünden wird. Ich brauche Sie aber nicht für falsche Propheten zu warnen. Sie sind zu gescheut, um diesen in die Hände zu fallen. Mit einem hellen Kopfe und reinem Herzen ist man sehr sicher gegen dieselben, an solche Leute wagen sie sich auch nie.

Nun, das war einmal wieder ein langer Brief. Ich erwarte mit Ungeduld einen von Ihnen, und die Nachricht von Ihren Verrichtungen auf dem Eichsfelde, umarme unsern Pflegesohn in Gedanken, und bleibe


Ihr treuer

Leidthal.

Fußnoten

1 Man sehe den 16ten Brief im ersten Theile, Seite 197.


2 Lavaters physionomische Fragmente IIter Theil, viertes Fragment. Zwar konnte diese Stelle im Jahr 1770 nicht angeführt werden. Es stand aber eine ähnliche da, wogegen man diese eingerückt hat.


Quelle:
Knigge, Adolph Freiherr von: Der Roman meines Lebens, in Briefen herausgegeben. 4 Teile, Teil 2, Riga 1781–1783, S. 54.
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