Drei und zwanzigstes Stück

[334] Den 17ten Julius, 1767


Der Herr von Voltaire hat den Essex auf eine sonderbare Weise kritisiert. Ich möchte nicht gegen ihn behaupten, daß Essex ein vorzüglich gutes Stück sei; aber das ist leicht zu erweisen, daß viele von den Fehlern, die er daran tadelt, Teils[334] sich nicht darin finden, Teils unerhebliche Kleinigkeiten sind, die seiner Seits eben nicht den richtigsten und würdigsten Begriff von der Tragödie voraussetzen.

Es gehört mit unter die Schwachheiten des Herrn von Voltaire, daß er ein sehr profunder Historikus sein will. Er schwang sich also auch bei dem Essex auf dieses sein Streitroß, und tummelte es gewaltig herum. Schade nur, daß alle die Taten, die er darauf verrichtet, des Staubes nicht wert sind, den er erregt.

Thomas Corneille hat ihm von der englischen Geschichte nur wenig gewußt; und zum Glücke für den Dichter, war das damalige Publikum noch unwissender. Itzt, sagt er, kennen wir die Königin Elisabeth und den Grafen Essex besser; itzt würden einem Dichter dergleichen grobe Verstoßungen wider die historische Wahrheit schärfer aufgemutzet werden.

Und welches sind denn diese Verstoßungen? Voltaire hat ausgerechnet, daß die Königin damals, als sie dem Grafen den Prozeß machen ließ, acht und sechzig Jahr alt war. Es wäre also lächerlich, sagt er, wenn man sich einbilden wollte, daß die Liebe den geringsten Anteil an dieser Begebenheit könne gehabt haben. Warum das? Geschieht nichts Lächerliches in der Welt? Sich etwas Lächerliches als geschehen denken, ist das so lächerlich? »Nachdem das Urteil über den Essex abgegeben war, sagt Hume, fand sich die Königin in der äußersten Unruhe und in der grausamsten Ungewißheit. Rache und Zuneigung, Stolz und Mitleiden, Sorge für ihre eigene Sicherheit und Bekümmernis um das Leben ihres Lieblings, stritten unaufhörlich in ihr: und vielleicht, daß sie in diesem quälenden Zustande mehr zu beklagen war, als Essex selbst. Sie unterzeichnete und widerrufte den Befehl zu seiner Hinrichtung einmal über das andere; itzt war sie fast entschlossen, ihn dem Tode zu überliefern; den Augenblick darauf erwachte ihre Zärtlichkeit aufs neue, und er sollte leben. Die Feinde des Grafen ließen sie nicht aus den Augen; sie stellten ihr vor, daß er selbst den Tod wünsche, daß er selbst erkläret habe, wie sie doch anders keine Ruhe vor ihm haben würde. Wahrscheinlicher Weise tat diese Äußerung[335] von Reue und Achtung für die Sicherheit der Königin, die der Graf sonach lieber durch seinen Tod befestigen wollte, eine ganz andere Wirkung, als sich seine Feinde davon versprochen hatten. Sie fachte das Feuer einer alten Leidenschaft, die sie so lange für den unglücklichen Gefangnen genähret hatte, wieder an. Was aber dennoch ihr Herz gegen ihn verhärtete, war die vermeintliche Halsstarrigkeit, durchaus nicht um Gnade zu bitten. Sie versahe sich dieses Schrittes von ihm alle Stunden, und nur aus Verdruß, daß er nicht erfolgen wollte, ließ sie dem Rechte endlich seinen Lauf.«

Warum sollte Elisabeth nicht noch in ihrem acht und sechzigsten Jahre geliebt haben, sie, die sich so gern lieben ließ? Sie, der es so sehr schmeichelte, wenn man ihre Schönheit rühmte? Sie, die es so wohl aufnahm, wenn man ihre Kette zu tragen schien? Die Welt muß in diesem Stücke keine eitlere Frau jemals gesehen haben. Ihre Höflinge stellten sich daher alle in sie verliebt, und bedienten sich gegen Ihro Majestät, mit allem Anscheine des Ernstes, des Stils der lächerlichsten Galanterie. Als Raleigh in Ungnade fiel, schrieb er an seinen Freund Cecil einen Brief, ohne Zweifel damit er ihn weisen sollte, in welchem ihm die Königin eine Venus, eine Diane, und ich weiß nicht was, war. Gleichwohl war diese Göttin damals schon sechzig Jahr alt. Fünf Jahr darauf führte Heinrich Unton, ihr Abgesandter in Frankreich, die nämliche Sprache mit ihr. Kurz, Corneille ist hinlänglich berechtiget gewesen, ihr alle die verliebte Schwachheit beizulegen, durch die er das zärtliche Weib mit der stolzen Königin in einen so interessanten Streit bringet.

Eben so wenig hat er den Charakter des Essex verstellet, oder verfälschet. Essex, sagt Voltaire, war der Held gar nicht, zu dem ihn Corneille macht: er hat nie etwas merkwürdiges getan. Aber, wenn er es nicht war, so glaubte er es doch zu sein. Die Vernichtung der spanischen Flotte, die Eroberung von Cadix, an der ihn Voltaire wenig oder gar kein Teil läßt, hielt er so sehr für sein Werk, daß er es durchaus nicht leiden wollte, wenn sich jemand die geringste Ehre davon anmaßte. Er erbot sich, es mit dem Degen in der Hand, gegen den Grafen von Notthingham, unter dem er kommandiert[336] hatte, gegen seinen Sohn, gegen jeden von seinen Anverwandten, zu beweisen, daß sie ihm allein zugehöre.

Corneille läßt den Grafen von seinen Feinden, namentlich vom Raleigh, vom Cecil, vom Cobhan, sehr verächtlich sprechen. Auch das will Voltaire nicht gut heißen. Es ist nicht erlaubt, sagt er, eine so neue Geschichte so gröblich zu verfälschen, und Männer von so vornehmer Geburt, von so großen Verdiensten, so unwürdig zu mißhandeln. Aber hier kömmt es ja gar nicht darauf an, was diese Männer waren, sondern wofür sie Essex hielt; und Essex war auf seine eigene Verdienste stolz genug, um ihnen ganz und gar keine einzuräumen.

Wenn Corneille den Essex sagen läßt, daß es nur an seinem Willen gemangelt, den Thron selbst zu besteigen, so läßt er ihn freilich etwas sagen, was noch weit von der Wahrheit entfernt war. Aber Voltaire hätte darum doch nicht ausrufen müssen: »Wie? Essex auf dem Throne? mit was für Recht? unter was für Vorwande? wie wäre das möglich gewesen?« Denn Voltaire hätte sich erinnern sollen, daß Essex von mütterlicher Seite aus dem Königlichen Hause abstammte, und daß es wirklich Anhänger von ihm gegeben, die unbesonnen genug waren, ihn mit unter diejenigen zu zählen, die Ansprüche auf die Krone machen könnten. Als er daher mit dem Könige Jakob von Schottland in geheime Unterhandlung trat, ließ er es das erste sein, ihn zu versichern, daß er selbst dergleichen ehrgeizige Gedanken nie gehabt habe. Was er hier von sich ablehnte, ist nicht viel weniger, als was ihn Corneille voraussetzen läßt.

Indem also Voltaire durch das ganze Stück nichts als historische Unrichtigkeiten findet, begeht er selbst nicht geringe. Über eine hat sich Walpole13 schon lustig gemacht. Wenn nämlich Voltaire die erstern Lieblinge der Königin Elisabeth nennen will, so nennt er den Robert Dudley und den Grafen von Leicester. Er wußte nicht, daß beide nur eine Person waren, und daß man mit eben dem Rechte den Poeten Arouet und den Kammerherrn von Voltaire zu zwei[337] verschiedenen Personen machen könnte. Eben so unverzeihlich ist das Hysteronproteron, in welches er mit der Ohrfeige verfällt, die die Königin dem Essex gab. Es ist falsch, daß er sie nach seiner unglücklichen Expedition in Irland bekam; er hatte sie lange vorher bekommen; und es ist so wenig wahr, daß er damals den Zorn der Königin durch die geringste Erniedrigung zu besänftigen gesucht, daß er vielmehr auf die lebhafteste und edelste Art mündlich und schriftlich seine Empfindlichkeit darüber ausließ. Er tat zu seiner Begnadigung auch nicht wieder den ersten Schritt; die Königin mußte ihn tun.

Aber was geht mich hier die historische Unwissenheit des Herrn von Voltaire an? Eben so wenig als ihn die historische Unwissenheit des Corneille hätte angehen sollen. Und eigentlich will ich mich auch nur dieser gegen ihn annehmen.

Die ganze Tragödie des Corneille sei ein Roman: wenn er rührend ist, wird er dadurch weniger rührend, weil der Dichter sich wahrer Namen bedienet hat?

Weswegen wählt der tragische Dichter wahre Namen? Nimmt er seine Charaktere aus diesen Namen; oder nimmt er diese Namen, weil die Charaktere, welche ihnen die Geschichte beilegt, mit den Charakteren, die er in Handlung zu zeigen sich vorgenommen, mehr oder weniger Gleichheit haben? Ich rede nicht von der Art, wie die meisten Trauerspiele vielleicht entstanden sind, sondern wie sie eigentlich entstehen sollten. Oder, mich mit der gewöhnlichen Praxi der Dichter übereinstimmender auszudrücken: sind es die bloßen Facta, die Umstände der Zeit und des Ortes, oder sind es die Charaktere der Personen, durch welche die Facta wirklich geworden, warum der Dichter lieber diese als eine andere Begebenheit wählet? Wenn es die Charaktere sind, so ist die Frage gleich entschieden, wie weit der Dichter von der historischen Wahrheit abgehen könne? In allem, was die Charaktere nicht betrifft, so weit er will. Nur die Charaktere sind ihm heilig; diese zu verstärken, diese in ihrem besten Lichte zu zeigen, ist alles, was er von dem Seinigen dabei hinzutun darf; die geringste wesentliche Veränderung[338] würde die Ursache aufheben, warum sie diese und nicht andere Namen führen; und nichts ist anstößiger, als wovon wir uns keine Ursache geben können.

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Le Chateau d'Otrante, Pref. p. XIV.

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 4, München 1970 ff., S. 334-339.
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