Lippenbär (Ursus labiatus)

[181] In Gestalt und Wesen auffallender noch als der Sonnenbär, erscheint der Lippenbär (Ursus labiatus, Bradypus ursinus, Melursus und Prochilus labiatus, P. ursinus und M. lybius). Ihn kennzeichnen ein kurzer, dicker Leib, niedere Beine, ziemlich große Füße, deren Zehen mit ungeheueren Sichelkrallen bewehrt sind, eine vorgezogene, stumpfspitzige Schnauze mit weit vorstreckbaren Lippen und langes zottiges Haar, welches im Nacken eine Mähne bildet und auch seitlich tief herabfällt. Alle angegebenen Merkmale verleihen der Art ein so eigenthümliches Gepräge, daß sie in den Augen einzelner Forscher als Vertreter einer besonderen Sippe gilt. Wie merkwürdig das Thier sein muß, sieht man am besten daraus, daß es zuerst unter dem Namen des bärenartigen Faulthieres (Bradypus ursinus) beschrieben, ja in einem Werke sogar »das namenlose Thier genannt wurde. In Europa wurde der Lippenbär zu Ende des vorigen Jahrhunderts bekannt; anfangs dieses Jahrhunderts kam er auch lebend dahin. Da stellte sich nun freilich heraus, daß er ein echter Bär ist, und somit erhielt er seinen ihm gebührenden Platz in der Thierreihe angewiesen.

Die Länge des Lippenbären beträgt, einschließlich des etwa 10 Centimeter langen Schwanzstumpfes 1,8 Meter, die Höhe am Widerrist ungefähr 85 Centimeter. Unser Thier kann kaum verkannt werden. Der flache, breit- und plattstirnige Kopf verlängert sich in eine lange, schmale, zugespitzte und rüsselartige Schnauze von höchst eigenthümlicher Bildung. Der Nasenknorpel nämlich breitet sich in eine flache und leicht bewegbare Platte aus, auf welcher die beiden in die Quere gezogenen und durch eine schmale Scheidewand von einander getrennten Nasenlöcher münden. Die Nasenflügel, welche sie seitlich begrenzen, sind im höchsten Grade beweglich, und die langen, äußerst dehnbaren Lippen übertreffen sie noch hierin. Sie reichen schon im Stande der Ruhe ziemlich weit über den Kiefer hinaus, können aber unter Umständen so verlängert, vorgeschoben, zusammengelegt und umgeschlagen werden, daß sie eine Art Röhre bilden, welche fast vollständig die Fähigkeiten eines Rüssels besitzt. Die lange, schmale und platte, vorn abgestutzte Zunge hilft diese Röhre mit herstellen und verwenden, und so ist das Thier im Stande, nicht bloß Gegenstände aller Art zu ergreifen und an sich zu ziehen, sondern förmlich an sich zu saugen. Der übrige Theil des Kopfes zeichnet sich durch die kurzen, stumpf zugespitzten und aufrecht stehenden Ohren sowie die kleinen, fast schweineartigen, schiefen Augen aus; doch sieht man vom ganzen Kopfe nur sehr wenig, weil selbst der größte Theil der kurzbehaarten Schnauze von den auffallend langen, struppigen Haaren des Scheitels verdeckt wird. Dieser Haarpelz verhüllt auch den Schwanz und verlängert sich an manchen Theilen des Körpers, zumal am Halse und im [181] Nacken, zu einer dichten, krausen und struppigen Mähne. In der Mitte des Rückens bilden sich gewöhnlich zwei sehr große, wulstige Büsche aus den hier sich verwirrenden Haaren und geben dem Bären das Aussehen, als ob er einen Höcker trüge. So gewinnt der ganze Vordertheil des Thieres ein höchst unförmliches Aussehen, und dieses wird durch den plumpen und schwerfälligen Leib und die kurzen und dicken Beine noch wesentlich erhöht. Sogar die Füße sind absonderlich, und die außerordentlich langen, scharfen und gekrümmten Krallen durchaus eigenthümlich, wirklich faulthierartig. Im Gebiß fallen die Schneidezähne in der Regel frühzeitig aus, und der Zwischenkiefer bekommt dann ein in der That in Verwirrung setzendes Aussehen. Die Färbung der groben Haare ist ein glänzendes Schwarz; die Schnauze sieht grau oder schmuzigweiß, ein fast herzförmig oder hufeisenförmig gestalteter Brustflecken dagegen weiß aus. Bisweilen haben auch die Zehen eine sehr lichte Färbung. Die Krallen sind in der Regel weißlich hornfarben, die Sohlen aber schwarz. Geringere Ausbildung der Mähne an Kopf und Schultern und die deshalb hervortretenden, verhältnismäßig großen Ohren sowie die dunkleren Krallen unterscheiden die Jungen von den Alten; auch ist bei ihnen gewöhnlich die Schnauze bis hinter die Augen gelblichbraun und die Hufeisenbinde auf der Brust gelblichweiß gefärbt.

Die Heimat des Lippenbären oder Aswail ist das Festland Südasiens, ebensowohl Bengalen wie die östlich und westlich daran grenzenden Gebirge, nebst der Insel Ceilon. Besonders häufig soll er in den Gebirgen von Tetan und Nepal gefunden werden. Ein echtes Gebirgsthier steigt er nur zuweilen in die Ebenen herab, in den Gebirgen jedoch findet er sich überall ziemlich häufig und zwar nicht blos in einsamen Wäldern, sondern auch in der Nähe von bewohnten Orten; auf Ceilon dagegen verbirgt er sich, wie Tennent berichtet, in den dichtesten Wäldern der hügeligen und trockenen Landschaften an der nördlichen und südöstlichen Küste und wird ebenso selten in größeren Höhen wie in den feuchten Niederungen angetroffen. Im Gebiet von Karetschi auf Ceilon war er während einer länger anhaltenden Dürre so gemein, daß die Frauen ihre beliebten Bäder und Waschungen in den Flüssen gänzlich aufgeben mußten, weil ihnen nicht nur auf dem Lande, sondern auch im Wasser Bären in den Weg traten, – hier oft gegen ihren Willen; denn sie waren beim Trinken in den Strom gestürzt und konnten infolge ihres täppischen Wesens nicht wieder aufkommen. Während der heißesten Stunden des Tages liegt unser Bär in natürlichen oder selbstgegrabenen Höhlen. Wie es scheint, im höchsten Grade empfindlich gegen die Hitze, leidet er außerordentlich, wenn er genöthigt wird, über die kahlen, von der Sonne durchglühten Gebirgsflächen zu wandern. Englische Jäger fanden, daß die Sohlen eines Lippenbären, welchen sie durch ihre Verfolgung genöthigt hatten, bei Tage größere Strecken in den Mittagsstunden zu durchlaufen, verbrannt waren, und ich meinestheils glaube diese Angabe durchaus verbürgen zu können, weil ich ähnliches in Afrika bei Hunden bemerkt habe, welche nach längeren Jagden während der Mittagszeit wegen ihrer verbrannten Sohlen nicht mehr gehen konnten. Die Empfindlichkeit der Füße wird dem Aswail gewöhnlich verderblich; man erlegt oder bekämpft ihn leichter, wenn er vorher durch die Glut der Sonne mürbe gemacht worden ist, als wenn er frisch seinen Feinden entgegentritt. Letzteren kann er so gefährlich werden wie irgendwelcher Bär; denn so harmlos er auch im ganzen ist, wenn er unbelästigt seine Gebirgshalden und Abgründe durchzieht, soviel Furcht stößt er ein, wenn seine Muth durch empfangene Wunden oder sonstwie erregt wurde.

Man sagt, daß die Nahrung des Lippenbären fast ausschließlich in Pflanzenstoffen und kleineren, zumal wirbellosen Thieren bestehe, und daß er sich nur beim größten Hunger an Wirbelthiere wage. Verschiedene Wurzeln und Früchte aller Art, Immennester, deren Waben mit Jungen oder deren Honig er gleich hochschätzt, Raupen, Schnecken und Ameisen bilden seine Nahrung, und seine langgebogenen Krallen leisten ihm bei Aufsuchung und bezüglich Ausgrabung verborgener Wurzeln oder aber bei Eröffnung der Ameisenhaufen sehr gute Dienste. Selbst die festen Baue der Termiten soll er mit Leichtigkeit zerstören können und dann unter der jüngeren Brut arge Verwüstungen anrichten. Der Bienen und Ameisen wegen steigt er auf die höchsten Bäume. [182] ›einer meiner Freunde‹, sagt Tennent, welcher eine Waldung in der Nähe von Jaffea durchzog, wurde durch unwilliges Gebrumm auf einen Aswail aufmerksam gemacht, welcher hoch oben auf einem Zweige saß und mit einer Brante die Waben eines Rothameisennestes zum Munde führte, während er die andere Tatze nothwendig gebrauchen mußte, um seine Lippen Augenwimpern von den durch ihn höchlichst erzürnten Kerfen zu säubern. Die Veddahs in Bintenne, deren größtes Besitzthum ihre Honigstöcke ausmachen, leben in beständiger Furcht vor diesem Bären, weil er, angelockt durch den Geruch seiner Lieblingsspeise, keine Scheu mehr kennt und die erbärmlichen Wohnungen jener Bienenväter rücksichtslos überfällt. Den Anpflanzungen fügt er oft empfindlichen Schaden zu; namentlich in den Zuckerwaldungen betrachtet man ihn als einen sehr unlieben Gast. Allein unter Umständen wird er auch größeren Säugethieren oder Vögeln gefährlich und fällt selbst Herdenthiere und Menschen an. Man erzählt sich in Ostindien, daß er die Säugethiere und somit auch den Menschen auf das grausamste martere, bevor er sich zum Fressen anschicke. Er soll seine Beute fest mit seinen Armen und Krallen umfassen und ihr nun gemächlich und unter fortwährenden Saugen mit den Lippen Glied für Glied zermalmen. Gewöhnlich weicht er dem sich nahenden Menschen aus; allein seine Langsamkeit verhindert ihn nicht selten an der Flucht, und nun wird er, weniger aus Bösartigkeit als vielmehr aus Furcht und in der Absicht, sich selbst zu vertheidigen, der angreifende Theil. Seine Angriffe werden unter solchen Umständen so gefährlich, daß die Singalesen in ihm das furchtbarste Thier erblicken. Kein einziger dieser Leute wagt es, unbewaffnet durch den Wald zu gehen; wer kein Gewähr besitzt, bewaffnet sich wenigstens mit dem ›Kadelly‹, einer leichten Axt, mit welcher man dem Bären zum Zweikampfe gegenübertritt.« Der Aswail zielt seinerseits immer nach dem Gesichte seines Gegners und reißt diesem, wenn er ihn glücklich niederwarf, regelmäßig die Augen aus. Tennent versichert, viele Leute gesehen zu haben, deren Gesicht noch die Belege solcher Kämpfe zeigte: grell von der dunklen Haut abstechende, lichte Narben, welche besser als alle Erzählungen den Grimm des gereizten Thieres bekundeten.

Die Postläufer, welche nur bei Nacht reisen, sind den Anfällen der Lippenbären mehr als andere Indier ausgesetzt und tragen deshalb immer helleuchtende Fackeln in den Händen, deren greller Schein die Raubthiere schreckt und veranlaßt, den Weg zu räumen. Demungeachtet theilen auch sie den Glauben der meisten Singalesen, daß gewisse Gedichte mehr als alles übrige vor den Angriffen der Aswails schützen, und tragen deshalb immer im Haare oder im Nacken Amulete, deren Wunderkraft eben in jenen Gedichten beruht. Leider beweisen die Bären den durch Talismane Gefeiten oft genug, daß die Wunderkraft nicht eben groß ist, und die biederen Singalesen nehmen auch gar keinen Anstand, trotz aller Schutzmittel, einem wüthenden Aswail das Feld zu lassen, falls ihnen dazu Zeit bleibt. Sie wissen sehr wohl, daß der gereizte Bär nichts weniger als der gutmüthige Bursche ist, welcher er scheint, daß der Zorn vielmehr sein ganzes Wesen verändert. Während er bei ruhigem Gange in der sonderbarsten Weise dahinwankt und seine Beine so täppisch als möglich kreuzweise übereinander setzt, fällt er bei Erregung in einen Trab, welcher immer noch schnell genug ist, um einen Fußgänger unter allen Umständen zu erreichen. Bei langsamer Bewegung trägt er den Kopf zur Erde gesenkt und krümmt dabei den Rücken, wodurch der Haarfilz scheinbar erst recht zum Höcker wird, bei schnellerem Laufe aber trabt er mit emporgehobenem Haupte dahin. Einem Feinde geht er manchmal auch auf den zwei Hinterfüßen entgegen.

Ueber seine Fortpflanzung berichtet man, daß die Bärin zwei Junge wirft und diese, solange sie noch nicht vollständig bewegungsfähig sind, auf dem Rücken trägt, wie ein Faulthier seine Nachkommenschaft. Letztere Angabe fordert zu den entschiedensten Zweifeln heraus.

In der Gefangenschaft hat man den Lippenbären öfters beobachten können, und zwar ebensowohl in Indien wie in Europa. In seinem Vaterlande wird seine Gelehrigkeit von Gauklern und Thierführern benutzt und er gleich unserem Meister Petz zu allerlei Kunststückchen abgerichtet. Die Leute ziehen mit ihm in derselben Weise durch das Land, wie früher unsere Bärenführer, und gewinnen [183] durch ihn dürftig genug ihren Lebensunterhalt. In Europa hat man ihn hauptsächlich in England längere Zeit, einmal sogar durch neunzehn Jahre, am Leben erhalten können. Man füttert ihn mit Milch, Brod, Obst und Fleisch und hat in Erfahrung gebracht, daß er Brod und Obst dem übrigen Futter entschieden vorzuziehen scheint. Wenn er jung eingefangen wird, läßt er sich leicht zähmen, macht auch trotz seiner scheinbaren Plumpheit und Schwerfälligkeit Vergnügen. Er wälzt sich, wie ein schlafender Hund zusammengelegt, von einer Seite zur anderen, springt umher, schlägt Purzelbäume, richtet sich auf den Hinterfüßen auf und verzerrt, wenn ihm irgendwelche Nahrung geboten wird, sein Gesicht in der merkwürdigsten Weise. Dabei erscheint er verhältnismäßig gutmüthig, zuthunlich und ehrlich. Er macht niemals Miene, zu beißen, man kann ihm also, wenn man ihn einmal kennen lernte, in jeder Hinsicht vertrauen. Gegen andere seiner Art ist er womöglich noch anhänglicher als manche seiner Familienverwandten. Zwei Aswails, welche man im Thiergarten von London hielt, pflegten sich auf die zärtlichste Weise zu umarmen und sich gegenseitig dabei die Pfoten zu lecken. In recht guter Laune stießen sie auch ein bärenartiges Knurren aus; dagegen vernahm man rauhe und brüllende Töne, wenn man sie in Zorn gebracht hatte.

Ich habe den Lippenbär oft in Thierschaubuden und in Thiergärten gesehen. Die Gefangenen liegen gewöhnlich wie ein Hund auf dem Bauche und beschäftigen sich stundenlang mit Belecken ihrer Tatzen. Gegen Vorgänge außerhalb ihres Käfigs scheinen sie höchst gleichgültig zu sein. Ueberhaupt kamen mir die Thiere gutartig, aber auch sehr stumpfgeistig vor. Wenn man ihnen Nahrung hinhält, bilden sie ihre Lippenröhre und versuchen, das ihnen dargereichte mit den Lippen zu fassen, ungefähr in derselben Weise, in welcher die Wiederkäuer dies zu thun pflegen. Ihre Stimme schien mir eher ein widerliches Gewimmer als ein Gebrumm zu sein.

Der erlegte Aswail wird in seinem Vaterlande ungefähr in derselben Weise benutzt wie die im Norden lebenden Bären von den Europäern, Asiaten und Amerikanern. Das Fleisch wird sehr geschätzt und gilt auch in den Augen der Engländer für besonders wohlschmeckend. Noch höher achtet man das Fett, nachdem man es in derselben Weise geklärt und gereinigt hat, wie ich es bei dem Tiger beschrieb. Die Europäer verwenden es zum Einschmieren ihren Waffen, die Indier halten es für ein untrügliches Mittel gegen gichtische Schmerzen aller Art.


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Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Zweiter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Dritter Band: Hufthiere, Seesäugethiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 181-184.
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