Rückblick und Aufblick

[152] Von der Schleife der Urzeit bis hinauf zum motorgetriebenen Fahrzeug ist ein langer Weg.

Es ist der Weg der Kultur durch die Jahrtausende.

Am Anfang dieses Weges steht der vorgeschichtliche Mensch, der Raum und Entfernung nur so weit beherrscht, wie zwei Beine ihn tragen und fortschaffen können. An Geschwindigkeit, Ausdauer und Kraft sind ihm die meisten Raubtiergewaltigen seiner Zeit überlegen. Aber was ihm die Natur versagte, das mußte ihm – bis hinauf zum Flügelschlag des Vogels – geben der Geist, der Erfinder- und der Forschergeist. So machte die Not den Urmenschen zum Erfinder.

In dem Streben, sich los und frei zu machen von der erdenschweren Scholle, vom Sklaven des Raums sich emporzuschwingen zum Beherrscher des Raumes, in diesem Streben[152] lösen ganze Erfindergenerationen in jahrtausendelangem Kulturaufstieg einander ab.

Es kamen die Schleifen und Walzen, es kamen die Walzkarren, die Zweiräder- und Vierräderwagen. Aber Jahrtausende hindurch seufzte der Mensch oder keuchte das Tier vor diesen Fahrzeugen, so sehr auch die besten Erfinderköpfe aller Völker und Zeiten sich abmühten, den tierischen Zug durch den mechanischen zu ersetzen.

Erst nach der Erfindung der Dampfmaschine ändert sich das Bild. Da beginnt eine neue Ära, die Ära des Dampfes. Dampfwagen fahren. Sie sind nicht lebensfähig. Lebensfähig und kulturumwälzend aber ist ihr Kind, die Lokomotive, von Trevethik und Stephenson auf die Schienen gestellt. So Gewaltiges und Epochemachendes damit auch im Massentransport und im Fernverkehr erreicht war, der eiserne Verkehrstitan konnte seine alles überragende Kraft nur entfalten in sklavischer Abhängigkeit von der teuren Schienenstraße, gebunden an die festgelegte Richtung der eisernen Spur, war ihm an Freizügigkeit jedes Pferdefuhrwerk überlegen.

Mit dem Benzinautomobil beginnt in der Geschichte des Kraftwagens eine andere Ära, die Ära des Motors. Deutschen Technikern ist es geglückt, den »Kraftwagen« – im weitesten Sinne des Wortes – aus seiner eindimensionalen Zwangsläufigkeit zu befreien und von der starren Eisenschiene loszulösen. Nicht nur die Linie, die Fläche nach allen Seiten und Richtungen wird jetzt dem Motorwagen untertan. Darin liegt der große Kulturfortschritt ihrer Erfindung, daß die motorgetriebenen Fahrzeuge mit ihrem freien, richtungbestimmenden Können eine höhere[153] Entwicklungsstufe darstellen auf dem Wege hinauf zur souveränen Beherrschung von Raum und Zeit.

Doch damit ist die kulturelle Bedeutung des Kraftwagens und seines Motors nicht erschöpft. Von seiner Geburtsstunde an herrschte im Kraftwagenbau die Tendenz, den Motor immer leichter und schneller laufend zu machen. Schließlich war auf diese Weise ein Motor herangezüchtet, so leicht, daß der Mensch mit ihm auf eine noch höhere Entwicklungsstufe freier Beweglichkeit steigen konnte.

Horcht über euch! Hört ihr den starken Sang des leichten Motors, der in den Lüften hoch über eurem Scheitel kreist? Das ist der rauschende Flügelschlag der neuesten Zeit, jener Kulturepoche des Motors, wo der Mensch die Herrschaft antritt über den Raum auf und über der Erde. Tief unten läßt er triumphierend alles Erdenschwere. Abgestreift sind die angeborenen Fesseln des Raumes. Ein uralter Lebenstraum:


»Ach, zu des Geistes Flügeln wird so bald

Kein körperlicher Flügel sich gesellen« (Faust)


ist Tat geworden und Erfüllung.

Der Mensch fliegt ...

Daß ich die Erfüllung dieses uralten Menschheitstraumes noch habe erleben und schauen dürfen, ist für mich, den Achtzigjährigen, ein verglühendes Abendleuchten an meinem Lebenshimmel mit der aufgehenden Morgensonne. –[154]

Quelle:
Benz, Carl Friedrich: Lebensfahrt eines deutschen Erfinders. Die Erfindung des Automobils, Erinnerungen eines Achtzigjährigen. Leipzig 1936, S. 152-155.
Lizenz:
Kategorien: